Strategien im Schützengraben
Im Nachbarhaus, in der Wohnung direkt neben meiner, wohnt ein Koloß, dem ich lieber aus dem Weg gehe.
Er heißt Henning, zwei Meter, massiger Schädel, ein echter Schrank, wie man so sagt. Kommt kaum durch die Tür. Die schwarzen Haare trägt er glatt nach hinten gekämmt. Ein ganzer Kerl, wie mit Hammer und Meißel aus einem Steinblock geprügelt.
Wenn wir uns zufällig auf der Straße begegnen, weiche ich seinem Blick aus. Ich fürchte, daß er nur auf eine Gelegenheit wartet, mich mit seinen Fäusten zu bearbeiten. Doch er beachtet mich nie, marschiert immer ohne ein Wort an mir vorbei. Für ihn existiere ich nicht, bin in einer anderen Gewichtsklasse, tief unterm Fliegengewicht. Unwürdig.
Manchmal sehe ich, wie er mit einer zierlichen Frau das Haus verläßt oder ihre Einkäufe schleppt. Stumm, ohne Worte.
Hennings Freundin ist eher unauffällig gekleidet, aber mit Stil, die schönste Frau der Straße, ich habe schon von ihr geträumt.
Ich kann nicht anders, ich muß mir ständig vorstellen, wie sie's miteinander treiben. Sein massiger Körper schnaufend auf ihr, in ihr, wie eine wütende Dampflokomotive. Tut das nicht weh? Jedenfalls, wenn sein Schwanz so groß ist wie der Rest.
Daß er sie schlägt, glaube ich nicht, das würde ich hören. Also, durch die Wände.
Seine Nachbarn munkeln allerdings, er sitzt jeden Abend vor der Glotze und schraubt sich ein Bier nach dem anderen rein, frißt von früh bis spät Schnitzel, Bratkartoffeln, Garnelen. Er haßt seinen Job, die Welt, sein Leben. Und dann soll er noch irgendwen umgehauen haben, als der ihn im U-Bahn-Tunnel schräg anglotzte.
Seit Jahren schon wirkt Henning auf mich wie eine Atombombe kurz vor der Explosion. Aber sie explodiert nicht, er reißt sich zusammen und stampft jeden Morgen die Straße entlang zur U-Bahn und geht zur Arbeit.
Er mag am Arsch sein, aber er hält durch, funktioniert, und macht weiter bis ans Ende aller Tage
Direkt unter Henning wohnt Tommy, ein Sonnenschein. Er lacht und scherzt bei jedem Wetter, ich habe ihn noch nicht ein einziges Mal schlechtgelaunt erlebt, obwohl er alle Gründe dafür hätte: Wechselschicht, die Ex-Frau zieht ihn aus bis auf die Unterhosen, die Kinder darf er nicht sehen, sein Bruder sitzt wegen Vergewaltigung im Knast, die Mutter ist vor 14 Tagen an Darmkrebs gestorben.
Das steckt er alles weg, geht dreimal die Woche ins Fitneßstudio und schmeißt regelmäßig 'ne dicke Hausparty. Auf die ich nie gehe, weil ich keine Leute ausstehen kann, die nie einen schlechten Tag haben oder zumindest so tun.
Alle lieben Tommy, was man von Henning nicht gerade sagen kann
Ich weiß nicht, wen ich mehr bedauern soll. Und ich weiß nicht, mit wem ich lieber tauschen würde.