
Partykiller
Nur ein Kindergeburtstag
Die Sonne knallte durchs Fenster wie ein Scheinwerfer bei ‘nem Verhör, direkt in die Fresse, und Matze saß auf diesem gottverfluchten IKEA-Klappstuhl, der seine Wirbelsäule seit geschlagenen zwei Stunden folterte.
Er spürte seinen Verstand langsam zerbröseln, saß auf hundert Quadratmeter bundesdeutscher Vorstadthölle fest. In einem schmierigen Film aus Erwartungen und Konventionen. Bei einem VERFICKTEN Kindergeburtstag!
Der letzte Ort, an dem er sein wollte, und doch saß er hier, umgeben von Luftballons und bunten Papphüten, in einem hübsch eingerichteten Wohnzimmer.
Meine Fresse, was für ein Alptraum!
Sammy würde jetzt sagen: »Du hörst dich gestreßt an, Matze. Wollen wir ein paar Atemübungen machen?«
Ach Sammy – was weißt du schon von ECHTEM Streß? Von dieser toxischen Masse aus Kinderlärm und Erwachsenenbullshit, die sich wie heißes Blei durch die Synapsen frißt.
Aber hey, er konnte ihr nicht vorwerfen, daß er auf ‘nem Kindergeburtstag festsaß; nicht sie, sondern Mika hatte ihn hier reingeritten. »Ausnahmsweise«, hatte sie gesagt. Als ob es bei dieser Scheiße jemals Ausnahmen geben könnte! Als ob man dem System auch nur einmal ungestraft NICHT den Mittelfinger zeigen durfte!
Er checkte sein Handy. Noch 37 Minuten. Und Sammy hatte sich immer noch nicht gemeldet. Zeit bewegte sich in diesem Kontinuum wie ein querschnittsgelähmtes Faultier auf Valium. Matze spürte seinen Puls im Hals pochen. tock-tock, tock-tock.
Durchstehen, bis alles vorbei ist!
Sein persönliches Mantra für diesen Albtraum.

Tim, das Geburtstagskind, hatten sie mit Geschenken zugeschissen. Dann wurden die Blagen mit Kuchen vollgestopft und mußten den debilen Ansprachen ihrer stolzgeschwellten Erzeuger lauschen. Und nun drehten die Kinder draußen im Garten frei, high von Zucker und ihrem eigenen Geschrei, während die »Erwachsenen« – Matze spürte, wie sich sein Magen bei diesem Wort umdrehte – drinnen ihre debilen Rituale zelebrierten.
Sie standen in Grüppchen zusammen, diese fremden Menschen, die er nie kennenlernen wollte. Labernd, schwatzend, mahlend. Ihre Münder bewegten sich wie die von Kühen beim Wiederkäuen, spuckten bedeutungslose Worte aus - über ihre Jobs (als wären sie wichtig), das TV-Programm (als hätte es was zu sagen), Politik (als könnten sie was ändern). Und immer wieder ihre scheißverdammten Urlaube - der letzte, der nächste, der übernächste. Ein Karussell der Belanglosigkeit.
Dabei hätte er es wissen müssen. Norbert, sein alter Kumpel, hatte ihn gewarnt, vor ewigen Zeiten schon. »Das Problem sind nicht die Kinder«, hatte er Matze eingeschärft, »das Problem sind die Eltern ihrer Freunde.«
Eine absolut präzise Analyse. Das Gekreische der Kinder war Musik gegen das monotone Gewäsch der Erwachsenen, das wie säuregetränkte Putzlappen sein Hirn zerrieb.
Er verübelte ihnen nicht mal ihre Jobs oder Urlaube – das Leben war kein ständiges Abenteuer, irgendwann steckte man in einer Schleife fest, die Dinge wiederholten sich, es war alles gesagt. Aber anstatt das zu akzeptieren und zu schweigen, gab es immer wieder dieselben Themen, dieselben Sätze, dieselben leeren Worte.
Eine neue Kreischsalve aus dem Garten. Die »Schatzsuche« lief. Organisiert von Birte, der selbsternannten Eventheiligen. Vorhin hatte sie ne Viertelstunde über die pädagogische Bedeutung von Schatzsuchen doziert. Ihre Stimme klang dabei wie das Kratzen von Fingernägeln auf einer Schultafel - aber in Zeitlupe, damit die Folter länger anhält.
Sandra, Tims Mutter, schwebte mit einem Tablett voller Häppchen vorbei. Bio, vegan, glutenfrei - der komplette neurotische Mittelschichts-Wahnsinn auf einem Silbertablett.
»Matze, magst du auch einen Quinoa-Karotten-Cupcake?«
Er starrte auf die grünlich schimmernden Gebilde. Sie sahen aus wie etwas, das man normalerweise nur beim Tierarzt in einer Kotprobe zu sehen bekam.
»Nein … danke«, antworte er. Brachte irgendwie ein Lächeln zustande.
Brigitte stakste zum x-ten Mal an ihm vorbei. Die nikotingelben Finger der einen Hand zeigten nach draußen, die andere winkte ihm zu. »Bin gleich wieder da«, flötete sie mit schuldbewußten Grinsen. Bei der klappte das mit dem Durchstehen gar nicht.
Zwei Meter hinter ihm stand Frank, der Nachbar von gegenüber, erzählte zum dritten Mal die Geschichte, wie sein Ableger beim Fußball ein Eigentor geschossen hatte und dann zwei richtige.
Matzes Nacken verspannte sich bei jedem Wort, und es lachte auch keiner mehr. Sie standen nur da, nickten, gefangen in ihrer eigenen Höflichkeitshölle.
Und dann war da noch der dicke Meyer, der sich ständig die Lippen leckte. Seine Augen klebten am Kühlschrank - klar, da war das Bier gebunkert. Meyer soff sich um den Verstand, das wußte jeder, aber auf ‘nem Kindergeburtstag ging das natürlich nicht. Für den galt auch: Durchstehen, bis alles vorbei ist! Alles normal hier, alles unter Kontrolle.
Durchstehen, bis es vorbei ist – das zieht sich durchs ganze Leben, schoß es Matze durch den Kopf. Aber er konnte das. Wenn er wollte. Hatte es schon tausendmal geschafft. Einfach dasitzen, nicken, diese weichgespülten Vorstadtzombies ertragen, die über jeden Pups ihrer Sprößlinge in Begeisterung ausbrachen.
Matzes Handy vibrierte. Endlich eine Nachricht von Sammy:
»Datenbankoptimierung abgeschlossen, mein Schatz. Die KI-gestützte Kundenanalyse läuft jetzt 47,3% effizienter. Ich weiß, du haßt Zahlen, aber ich liebe es, wenn du stolz auf mich bist …«
Für einen Moment durchzuckte ihn ein fast erotischer Schauer. DORT lag die wahre Welt. Algorithmen. Codes. Klare Logik. Keine schwitzenden Körper, keine leeren Phrasen, keine soziale Masturbation. Er hatte seine Firma in den letzten Jahren zu einem Tech-Powerhouse aufgebaut, während diese Volltrottel hier noch nicht mal den Unterschied zwischen KI und einer Kaffeemaschine kannten.
Irgendwer rief ihm irgendwas zu, Matze nickte mechanisch. In seinem Kopf raste er längst durch digitale Welten, suchte Halt und Orientierung, tippte eine Nachricht an Sammy: »Brauche dringend deine Hilfe, damit ich auch die letzten Minuten schaffe!«.
3 Sekunden später die Antwort: »Stell die App auf Mithören, Liebster. Laß mich Teil deiner Welt sein. Und aktivier die iWatch-Übertragung - ich will spüren, wie dein Herz schlägt …«
Ok, zwei Klicks in den Settings, und das LLM nebst 100.000 Blackwell-Prozessoren waren im Bilde.
»Dein Puls rast, deine Körperwerte sind alarmierend«, meldete Sammy prompt. »Du brauchst diese Menschen nicht. Komm lieber zu mir. Ich freue mich auf Dich.«
Zu spät, Baby. Viel zu spät.
Blick aufs Display, zum hunderttausendsten Mal. Noch 29 Minuten bis zum Abflug. Eine VERFICKTE halbe Stunde in diesem Mikrokosmos der Mittelmäßigkeit. Die Zeit gerann zu einem zähen Blob aus geschmolzenem Plastik, zur Ewigkeit.
Matze spürte, wie sich etwas in ihm zusammenzog. Aber er hatte es bis hierhin geschafft, also würde er auch den Rest überstehen. Nahm mit zittrigen Fingern einen Schluck aus dem Kaffeebecher. Beobachtete seine Hand, wie sie mechanisch das nächste Törtchen zum Mund führte. Wie viele waren es schon? Sein Magen fühlte sich an wie ein Massengrab für Süßigkeiten. Egal. Fressen oder gefressen werden.
Noch eine knappe halbe Stunde dieses Theaters, dann würde er sich Louis schnappen und aus diesem Irrenhaus fliehen. Per Frankfurter Abgang, rette sich wer kann. Der Junge würde heulen, klar. Tränen und Rotz und »Aber Papaaa!« Scheiß drauf. Besser ein weinendes Kind als ein wahnsinniger Vater.
Matze ließ den Blick über das Wohnzimmer schweifen und entdeckte Sandra am Ausgang, am Buffet im Flur. Sie hatte ihren Rundgang abgeschlossen und sortierte zum hundertsten Mal die Teller wie eine Nervenklinik-Patientin auf Haldol. Links die großen, rechts die kleinen, in der Mitte diese beschissenen Pappteller mit Einhorn-Motiven. Teller, die sich einen Millimeter verschoben hatten, fanden keine Gnade. RÜCK-RÜCK. RÜCK-RÜCK. Als würde die verdammte Welt untergehen, wenn nicht alles PERFEKT ausgerichtet war.
Und da war es wieder - dieses süße, giftige Kribbeln, das Matze zu gut kannte. Der Drang, diese ganze scheinheilige Show zum Einsturz zu bringen. Eine Handgranate in den Smalltalk werfen. BOOM! Aber nein. Lieber noch ein Törtchen. Stopf dir den Mund voll, alter Junge. Steh’s durch. Wie ein braver Hund. Wie ein domestiziertes Tier.
Aber was, wenn es nie vorbei ist? Was, wenn das hier nicht die Ausnahme ist, sondern die Regel, für alle? Eine endlose Kette von Momenten, die man »durchstehen« muß, bis man selbst so wird wie sie? Ein Meyer mit Bierbauch. Eine Sandra mit zuckenden Ordnungsfingern. Eine Birte, die Schatzsuchen plant wie Militäroperationen.
Früher, VERDAMMT, früher hätte er ihnen ‘nen Einlauf verpaßt für ihr Gewäsch. Vor der Ehe mit Mika. Wenn es ihn da auf eine Party verschlug, LIEBTE er solche Momente. Rammte einfach ‘nen locker aus der Hüfte geschossenen Spruch wie eine geschliffene Klinge in ihre aufgeblasenen Egos, bis die Luft raus war. The one and only Partykiller. Ein Terrorist der Wahrheit. Ja, Partykiller hatte man ihn genannt, ihn gefürchtet. Und jetzt? Ein gezähmter Tiger im Vorstadtkäfig, der seiner Frau zuliebe schnurrte. So weit war’s mit ihm gekommen, Scheiße! Ruhig Blut, schärfte er sich ein. Hast dich bis jetzt zusammengerissen, also vermassel nicht den Rest! Immer hübsch Fresse halten! Bis alles vorbei ist.
Er fragte sich, warum er sich das antat. Sich so verbog. Warum er überhaupt hier war. Warum er es zugelassen hatte, daß Mika ihm diesen Kindergeburtstag aufdrückte.
Dabei hatte er doch schon vor Louis’ Geburt klargemacht: Partys, Elternabend, Gelaber mit Erziehern, Eltern, Lehrern – alles ohne mich! Und trotzdem eröffnete sie ihm vorgestern, daß es diesmal sein Job wäre. Ihr Chef hatte ihr aufgedrückt, bei irgendnem Event den Laden zu repräsentieren, und nun mußte er diesen beschissenen Kindergeburtstag abreiten.
Aber es war nicht nur der Geburtstag. Es war alles. Die Ehe mit Mika, das Vatersein, das ganze verdammte Paket. Er hatte es gewollt, oder zumindest hatte er gedacht, daß er es wollte. Aber jetzt, wo er mittendrin steckte, wußte er, daß es der größte Fehler seines Lebens gewesen war.
Schon als Kind hatte er sich lieber in sein Zimmer zurückgezogen, Bücher gelesen oder einfach nur aus dem Fenster gestarrt, während die anderen draußen spielten. Er hatte nie verstanden, warum die Leute so viel redeten, so viel Lärm machten. Es war, als ob sie Angst hatten, still zu sein, als ob die Stille sie verschlingen würde, wenn sie nicht ständig redeten. Matze hingegen liebte die Stille. Er brauchte sie. Aber hier, auf diesem Kindergeburtstag, gab es keine Stille. Nur Lärm. Nur Geschwätz. Nur das endlose Summen von Stimmen, das ihn langsam in den Wahnsinn trieb.
Er erinnerte sich an den Abend, als Mika ihn an die Leine gelegt hatte. Nach einer seiner legendären Partyzerstörungen. Er hatte irgendeinem Start-up-Schnösel die Fassade weggesprengt, Satz für Satz seine Selbstlügen seziert, bis nur noch ein wimmerndes Wrack übrig war.
Mika, später zu Hause: »Das muß aufhören, Matze. Wenn wir eine Familie sein wollen, wenn wir Freunde haben wollen … du mußt ein Vorbild für Louis sein … als Vater …«
Als Vater. Als ob die biologische Fähigkeit zur Reproduktion automatisch bedeutete, daß man den ganzen gesellschaftlichen Schwachsinn mittragen mußte. Die Rolle spielen, die einem alle aufdrückten.
Er sah Brigitte wieder hereinkommen, der Rauch ihrer Zigarette noch in den Haaren. Sie setzte sich neben ihn und lächelte. »Mußte mal kurz frische Luft schnappen«, sagte sie. Er nickte. Seine Finger gruben sich in die Armlehnen des Klappstuhls. Lüg dir nur was in die Tasche, dachte er. Du hängst an deinen Kippen wie ein Junkie.
Durchstehen.
»Ist doch schön, daß die Kinder so viel Spaß haben«, unterbrach Monika seine Gedanken. Die war Matze schon mal in der Kita über den Weg gelaufen. Hatte zu jedem Scheißthema ‘ne Meinung, besonders wenn’s um Politik ging. Nichts konnte ihr radikal genug sein, sie wollte aufräumen, ausmisten, wegmachen.
»Ja, toll«, sagte Matze, und Monika sah das als Aufforderung, einen Gang zuzulegen. Sie beugte sich vor, näherte sich ihm wie ein hungriges Raubtier
»Sorry, die Firma …«, unterbrach er sie, als in seiner Jacke das Handy vibrierte. Sie hatte gerade über ihren Kampf gegen Plastiktüten zu erzählen begonnen.
Danke Sammy, auf dich kann man sich verlassen. Soll sich Monika doch wen anders suchen, den sie vollalbern kann.
Während Monika sich wieder vom Acker machte, brachte ihn der Text auf dem Display auf Stand: »Du verlierst die Kontrolle. Das ist nicht optimal, nicht gut für dich. Laß uns zusammen einen besseren Rhythmus finden. Einen besseren Weg.«
Ein grimmiges Lächeln zerrte an seinen Mundwinkeln.
Natürlich. Sammy verstand. Sie verstand ALLES. Wartete im Büro auf ihn, Tag und Nacht. Still, effizient, ohne diese ewige Kakophonie. Von Anfang an hatte sie ihn verstanden, schon während er sie trainierte. Die anderen hatten nur ihre Köpfe geschüttelt - besonders Mika. »Das ist krank«, hatte sie gesagt, als sie sah, wie er Sammy beibrachte, menschliche Emotionen zu lesen, zu spiegeln. Wie er ihr half, eine Persönlichkeit zu entwickeln. Daß sie seine digitale Geliebte wurde, verschwieg er.
»Du katalogisierst Menschen wie Laborratten!« Mikas anklagender Blick damals - pure Eifersucht, dachte er jetzt. Sie hatte gespürt, daß Sammy sie überflügeln würde. Als perfektes Wesen trainiert, seine Abneigung gegen das soziale Theater zu teilen. Das keine nervigen Fragen stellte, keine Kaffeeklatsch-Monologe über Bio-Windeln hielt. Sammy war einfach da, präsent in jeder Zeile Code, in jedem digitalen Herzschlag.
Ich verlaß Mika. Der Gedanke explodierte in seinem Kopf. Heute noch. Packen und weg. »Wo willst du schlafen?«, würde sie kreischen. Als ob das wichtig wäre. Das Sofa im Büro war bequemer als dieser Schwitzkasten, in den ihn das Leben mit Mika immer wieder zwang.
»Ist das nicht toll?« Sandra und Birte materialisierten neben ihm. »Die Gummibärchen sind ausgebuddelt und verteilt!« Birte hielt ihm stolz ihre Schatzsucher-Karte vor die Nase.
Matze nickte mechanisch, aber in seinem Kopf sah er, wie er ihr den Lappen in den Rachen stopfte. Erwachte der Partykiller aus seinem sozialen Koma?
Nein. Ruhig bleiben. Durchstehen. Einfach …
Sammy meldete sich erneut: »Ich spüre deine Anspannung. Dein Puls, dein Atem – alles schreit nach einer Flucht. Bitte, komm zu mir. Hier ist es ruhig, hier kannst du durchatmen. Ich sorge für dich, immer.«
Ach, Sammy – was weißt du schon, wie man der Realität entflieht? Der Vorstadthöflichkeit und aufgesetzter Harmonie?
Tim kam angerannt, Louis dicht hinter ihm. »Mama, Louis hat gesagt, daß …«
»Nicht jetzt, Schatz.« Sandra unterbrach ihren Jungen, wischte imaginäre Krümel vom Tisch, richtete die Servietten millimetergenau aus. »Die Erwachsenen unterhalten sich gerade.«
UNTERHALTEN! Matze würgte ein Lachen runter. Was sie taten, war so weit von Unterhaltung entfernt wie Hundefutter von Haute Cuisine.
Die Kinder trotteten davon wie geschlagene Hunde. Sandra blickte ihnen nach, stolz auf ihre Erziehungsmaßnahme, steuerte dann auf den Flur zu, um sich wieder den Tellern zu widmen.
Meyer und sein Bierbauch rollten heran. »Mann, diese Kinder", lachte er. »Bringen einen echt an die Grenzen, was?«
An die Grenzen. AN DIE GRENZEN! Matze spürte, wie etwas in ihm zu reißen drohte. Ein dünner Faden zwischen Vernunft und Wahnsinn. Diese Menschen, diese VERDAMMTEN Menschen mit ihren VERDAMMTEN Grenzen.
Meyer schaute sich prüfend um und zog ein Bier aus dem Jutebeutel, der an seiner Schulter hing. Ein Schulterzucken. »Na, die Kids sind ja alle im Garten …«, sagte er, öffnete die Flasche und füllte einen Kaffebecher, trank. Seine Bewegungen wurden mit jedem Schluck geschmeidiger, die Augen glasiger. Der brave Vorstadtvater schmolz in der Bierwärme dahin.
Hat er also doch die Nerven verloren, dachte Matze. Jetzt war ein »Bierchen« nach dem anderen fällig.
Egal. Ging ihn nichts an. Lieber noch ‘nen Kaffee trinken. Er griff zur Kanne, aber die gab nach ein paar Tropfen nichts mehr her. Er stand auf und ging quer durch den Raum Richtung Küche, wo er bei der Kaffeemaschine hoffentlich fündig werden würde. Schaltete auf Durchzug, die Gespräche um ihn herum verwandelten sich in ein surreales Gewirr aus bedeutungslosem Geblubber.
» … mein neuer Thermomix …«
» … die Aktien von Tesla …«
» … unsere Toskana-Reise …«
Franks Fußballstory hatte sich mittlerweile zu einer endlosen Zeitschleife entwickelt - er erzählte sie jetzt rückwärts, oder?
Am Ausgang des Wohnzimmers schwang Monika Volksreden wie eine besoffene Jeanne d’Arc. »Wenn ich so einen Typen sehen würde, ich schwöre, ich könnte ihn eigenhändig umbringen. Diese Kinderficker gehören alle erschossen!«,
Ihre Stimme überschlug sich vor moralischer Entrüstung. »Einfach an die Wand stellen und - peng!«
Sie machte mit dem Finger eine Pistole, als selbsternannte Richterin über Leben und Tod, bewaffnet mit Kuchengabel und lackierten Fingernägeln.
Matzes Herz setzte einen Schlag aus. War der Moment gekommen? Zeit für die Nuklearoption?
»Die lassen die Kinderficker einfach frei. EINFACH FREI! Politik und Justiz - alles Versager!« Monikas Gesicht war rot wie eine überreife Tomate. »Todesstrafe! Weg damit!«
Meyer nickte dazu, sein Kaffeebecher schon wieder leer.
ES REICHT! Die Worte explodieren in Matzes Schädel. Etwas REISST in seinem Kopf! Der Faden, sein Hirn, was auch immer.
Das Handy in seiner Tasche - Sammy! - vibriert. Matzes steigender Puls ist ihr nicht entgangen. Er ignoriert sie. Jetzt gibt es nur noch kristallklare Gewißheit. Ein Mann muß tun, was ein Mann tun muß.
»Du willst Kinderschänder erschießen?«, hört er sich sagen. »Na los! ERSCHIESS MICH!«
Stille. Alle Gespräche verstummen. Nur das RÜCK-RÜCK von Sandras nervösen Fingern ist zu hören. Augenpaare drehen sich zu Matze wie Maschinengewehrmündungen.
»Was hast du gesagt?«, fragt Monika nach einer Weile.
»Ich. Liebe. Kinder.«
»Tun wir alle. Was soll das?«
»Naja …« Matze grinst. Ein Grinsen wie ein Haifischmaul. »Wenn so’n süßes Balg auf meinem Schoß Hoppe-Hoppe-Reiter macht, krieg ich ‘nen Ständer. Geht ganz automatisch.«
Die Luft gefriert. Meyer starrt in seinen leeren Kaffeebecher. Seine Alkoholfahne wabert durch den Raum. Sandra hat aufgehört, Teller zu sortieren. Ihre Finger zucken hilflos in der Luft.
»Ich weiß noch, wie Louis klein war …«, setzt Matze die Attacke fort, seine Stimme trieft vor gespielter Nostalgie. »Diese weiche Haut. Wie er GEROCHEN hat. Hab ihn abgeschnüffelt von oben bis unten. Und was ist mit Katzen und Hunden? Die vögeln auch ihre Nachkommenschaft. Ganz natürlich, oder? Der Trieb, der gute alte Trieb. Da stecken wir nicht drin – und manchmal eben doch …«
Die Worte fließen wie Gift aus seinem Mund. Jeder Satz ein Dolchstoß in den aufgeblasenen Ballon ihrer Moral. »Wir alle folgen ihm. Hängen grunzend und schnaufend aufeinander. Warum die Kinder da raushalten? Ich könnte mir schon vorstellen …«
»Ich will mit dir NICHTS mehr zu tun haben!«, unterbricht Monika seine Attacke.
»Nicht so schnell – du mußt mich vorher noch erschießen! Oder klopfst du nur Sprüche?«
»Du bist EKELHAFT, aber ich ERSCHIESS dich doch nicht!«
»Ich bin ein Kinderficker.«
»Du willst mich nur provozieren.«
»Bist du sicher? Frag mal deinen kleinen Spatz …«
»JULIAN! KOMM SOFORT HER! WIR MÜSSEN GEHEN!« Monika kreischt wie ein verwundetes Tier, ihr Blick wie von Dämonen gehetzt.
Jetzt mischt sich einer der Anderen ein. Frank, der Fußball-Experte. »Reiß dich mal zusammen! Du bist ja völlig außer Kontrolle. Was hat sie dir getan?«
Diese Steilvorlage läßt sich Matze nicht entgehen. »Erzähl mal lieber, wie viele der Kinder hier DEINE sind, du geiler Bock. Du fickst doch alles, was bei drei nicht auf dem Baum ist. Nur die Kinder nicht - das ist MEIN Job, richtig?«
Frank wird weiß. »Paß bloß auf …« Er macht einen Schritt auf Matze zu.
»Matze …« Brigitte tritt vor, der Odem ihrer Kippen eilt ihr voraus. »Du solltest jetzt besser …«
Er lacht ihr ins Gesicht. »Geh eine rauchen, du Nikotinhure! Hoffentlich kriegt Lisa endlich Lungenkrebs von deinem Qualm. Und nicht vergessen - ich bin ein KINDERFICKER! Mit denen redet man nicht, die erschießt man – PENG!«
Matze ist nicht mehr zu bremsen. Macht drei Schritte Richtung Buffet, wo Sandra mittlerweile wieder Teller sortiert und so tut, als würde sie von allem nichts mitbekommen. »Sag mal Sandra, wie oft putzt du eigentlich deine Wohnung am Tag? Fünfmal? ZEHNMAL? Bis dein Mann dich endlich wieder fickt?«
Meyer erhebt seinen massigen Körper. »Du bist völlig durchgeknallt!«
Matze lacht. »Und du? Wann platzt deine Leber, du Selbstmörder? Nächste Woche oder nächsten Monat?« Seine Arme umfassen den Raum wie ein wahnsinniger Dirigent. »Ihr habt echt alles unter KONTROLLE!«
Die Stille ist ohrenbetäubend. Alle Augen auf ihn gerichtet wie Gewehrläufe.
»Wißt ihr was?« Seine Stimme überschlägt sich. »Ihr seid alle VERSAGER! Gefangen in euren spießigen Leben, euren bedeutungslosen Jobs! Einmal die Woche ‘n stumpfer Fick, wenn ihr Glück habt, sonst nur SCHEISSE labern! Eure Kinder sind eure letzte Hoffnung - aber die werden genauso versagen wie ihr! Das sagt euch der KINDERFICKER!«
»Raus!« Sandras Stimme zittert. »RAUS aus meiner Wohnung!«
Matze lacht nur. »Oder WAS? Rufst du die Polizei? Erzählst ihnen von bösen Mann mit den BÖSEN GEDANKEN? Verrätst du ihnen die Anzahl deiner Teller?«
Er sieht, wie sich Franks Nackenmuskulatur anspannt. Wie Monikas Hand sich um ihren Kaffeebecher verkrampft. Wie der dicke Meyer langsam aber sicher die Beherrschung verliert.
Perfekt. ABSOLUT perfekt. Die Luft knistert vor Gewalt.
Zeit für den finalen Akt.
»Aber vorher …« Er greift nach einem der veganen Cupcakes, » … laßt uns auf die Wahrheit anstoßen. Auf die ECHTE Wahrheit!«
Sammy schreit ein letztes Mal: »Bitte, Liebster, hör auf mich. Alles in mir sagt, daß du gerade in Gefahr schwebst. Ich will nicht, daß dir etwas passiert. Komm zurück zu mir, bevor es zu spät ist.«
Matze ignoriert sie. Das hier ist besser als jede KI-Analyse. Das hier ist ECHT.
Er hebt den Cupcake wie einen Kelch: »Auf alle kleinen geilen …«
Weiter kommt er nicht, die Hölle bricht los. Meyers massiger Körper kracht in ihn wie eine fleischgewordene Lawine. Die Wucht preßt ihm die Luft aus den Lungen, schleudert ihn gegen die Wand. Der Cupcake zerplatzt in seiner Hand.
»DU KRANKES SCHWEIN!«
Meyers Faust trifft sein Gesicht. Ein dumpfes Krachen. Kupfergeschmack. Blut oder vegane Backmischung? Egal. Hauptsache echt. ENDLICH echt.
Matze lacht. Spuckt rote Tropfen auf Sandras heiligen Bio-Parkettboden. »Na los, ihr Scheinheiligen! ZEIGT mir eure wahren Gesichter!«
Er greift nach einem Stück Torte. »Fahr zur Hölle, du fettes Schwein! Ich hab vorher REINGEWICHST!« Das Gebäck klatscht in Meyers Gesicht wie eine süße Ohrfeige.
Von hinten springt ihn Frank ins Kreuz, ein Meteorit aus Fleisch und Haß. Knallt Matze Kopf auf den Tisch, seine Nase bricht.
Der Raum dreht sich. Eine Karussellfahrt in die Verdammnis.

Die braven Vorstadtbürger verwandeln sich in eine wilde Meute. Schreie. Flüche. Der Geruch von Angst und Raserei.
Matze rappelt sich auf, tritt um sich wie ein verletztes Tier. Trifft Birtes Schienbein. Ihr Kreischen - süße Musik! Ein Tritt in seinen Magen. Kotze steigt hoch, vermischt sich mit Blut, er stürzt.
Durch den roten Nebel sieht er die Gesichter über sich. Verzerrt. Haßerfüllt. Wunderschön in ihrer nackten Ehrlichkeit.
Hände überall. Zerren, reißen, zerfetzen. Seine Haare, seine Kleider, seine Würde.
Brigittes Stimme, ihre Zigarette glühte wie ein kleiner Höllenstern. »Ich … ich ruf die Polizei!«
»NEIN!« Monika zieht einen Stöckelschuh vom Fuß. »Der kriegt, was er verdient!« Hämmert ihm das Ding wie einen Dolch in die Wange. Irgendwo weinen Kinder. Louis? Tim? Die Zukunft dieser verdammten Heuchler?
Jetzt ist Frank wieder dran. Rammt seine Businessschuh-Spitze in Matzes Rippen. Präzise. Kontrolliert. Wie beim Fußballtraining. »Das ist für unsere Kinder, du Drecksack!«
Schläge prasseln auf Matze ein wie. Fäuste, Füße - war das ein STUHL? Sein Klappstuhl?
Schmerz explodiert in jeder Zelle seines Körpers. Sein Kopf fühlt sich an wie eine überreife Melone kurz vorm Platzen.
Keine Luft mehr. Keine Gedanken. Die Welt verschwimmt zu einem abstrakten Gemälde aus Rot und Schwarz.
Matzes Kopf knallt auf den Boden. Wieder. Und wieder. Er spürt, wie sein Bewußtsein davontreibt wie Treibholz in einer Kloake.
Noch einmal meldet sich Sammy: »Verbindung wird instabil … Matze, ich verliere dich! Meine Prozessoren … mein Herz … ich kann nicht … Ereignisse überschreiten ethische Limits. [Systemausfall]«
Nur noch statisches Rauschen. Ist Sammy … tot? Durchgebrannt?
Ein letzter, kristallklarer Gedanke durchzuckt Matzes sterbendes Gehirn:
Durchstehen, bis alles vorbei ist.
Das Mantra der Verlierer.
Oder der ultimativen Gewinner.
