
Toplage mit Kriegsblick
Umsturz in Neukölln und Hellersdorf
Als Tom seinen Arsch endlich aus dem Bett quälte, war die Sache längst gelaufen. Die Nazis hatten sein Viertel besetzt, und er hatte nichts davon mitbekommen. Das Ganze war still und leise nächtens über die Bühne gegangen, ohne letztes Aufbäumen der Zivilisation – keine Straßenschlachten, kein Bürgermeister, der eine letzte dramatische Rede hielt, mit der Verfassung herumwedelte und von Menschenrechten faselte. Nichts von diesem Film-der-Woche-Blödsinn. Die Okkupation Hellersdorfs war so geräuschlos über die Bühne gegangen, daß selbst die Ratten im Keller nicht ihre üblichen Fluchtpläne aktivieren konnten.
Erst als sich Vertreter der neuen Machthaber bei Tom persönlich vorstellten, fiel der Groschen. Langsam. Mit der Geschwindigkeit eines deutschen Behördenvorgangs.
Es war Sonntagmorgen um neun, und irgendwer bekam den Finger nicht von der Türklingel, die sich in seinen Schädel fräste wie der Bohrer eines durchgeknallten Hirnchirurgs. Tom warf den Kopf unter das Kissen, fluchte, gab sich schließlich geschlagen. Also raus aus den Federn, Bademantel über und Abmarsch zur Tür, gib’s ihnen, Alter! Seine Tochter war’s jedenfalls auf keinen Fall, so sehr er sich das auch täglich herbeiwünschte.
Aber wer auch immer Tom geweckt hatte, sollte besser einen verdammt guten Grund haben. Hellersdorf war nicht gerade die beste Gegend, um von Tür zu Tür zu gehen - nur ein weiterer Tumor am Arsch Berlins, wo sich Sozialhilfe und Hoffnungslosigkeit die Klinke in die Hand gaben. Abgesehen davon konnte sich Tom nicht daran erinnern, wann das letzte Mal jemand aufgetaucht war, um einfach »Hallo« zu sagen. Das war genau das, was ihm hier gefiel. Genau deshalb hatte er diesen speziellen Betonbunker im zwölften Stock dieser speziellen Betonwüste gewählt.
Er durchschritt sein fehlerfrei geordnetes Reich - die Bücher wie mit dem Lineal in den Stahlregalen ausgerichtet, der Boden auf Hochglanz poliert, die Staubpartikel mit militärischer Präzision aufgespürt und vernichtet. Seine private Festung der Einsamkeit in einer Welt, die den Bach runterging.
Tür auf, bereit, die ungebeten Gäste zusammenzuscheißen – aber was zum Teufel war DAS? Da standen zwei Typen, die aussahen wie einer biligen TV-Serie entlaufen: zusammengeschusterte uniformähnliche Tarnklamotten von KiK oder Amazon, Gewehre geschultert, als wären sie auf Safari in der urbanen Wildnis. Der Ältere der beiden hatte etwas von einem Schulleiter kurz vor der Pension - ruhige Augen, gepflegter Bart, ein Gesicht der Sorte, hinter dessen Stirn man keine heimtückischen Gedanken vermutete. Die Aktentasche in seiner Hand paßte zu seinem Kostüm wie ein Priester auf eine Messe für Sexspielzeug.

»Guten Morgen, Herr Keller«, begann der Schulleiter mit einem Lächeln wie aus einer Zahnpasta-Werbung. »Sind Sie Volksdeutscher? Europäer? Wir führen eine Volkszählung durch. Zu Ihrem Schutz, versteht sich.«
Tom blinzelte, sein Verstand arbeitete. Nein, das waren keine Zeugen Jehovas. Die wollten schließlich die Welt retten – diese beiden schienen eher der Kategorie anzugehören, die davon träumte, sie in Brand zu setzen, nur so zum Spaß. Spinner mit Plastikgewehren, die irgendein schrulliges Spiel mit den Leuten spielten. Oder waren sie echt? In diesem Drecksblock, in diesem Scheißleben war alles möglich.
»Ich kaufe nichts. Ich will schlafen«, sagte er schließlich und verpaßte der Tür einen kurzen Tritt. Ende Gelände, ihr Arschlöcher!
Irrtum. Der Jüngere reagierte blitzschnell und blockierte mit seinem Stiefel den Spalt. Einem Kampfstiefel, blitzeblank poliert. Die Typen rochen nach … Nazis! Dann waren die Gewehre vielleicht doch echt und keine Attrappen.
»Alles muß seine Ordnung haben«, sagte der Ältere, in immer noch freundlicher Oberlehrer-Manier. Legte seinem Kumpel, der nervös mit dem Gewehr fuchtelte, beruhigend die Hand auf die Schulter. Dann wandte er sich wieder Tom zu. »Würden Sie uns bitte Ihren Ausweis zeigen?«
»Ich wüßte nicht, warum ich das tun sollte«, erwiderte Tom und hielt den Atem an. Die Macht kommt aus den Gewehrläufen – hatte Mao gesagt, und Mao irrte selten in solchen Angelegenheiten.
»Weil … wir haben die Macht übernommen.«
»Ihr beide?«
»Nein. Der Nationale Volkswiderstand.« Als würde das alles erklären – War das ihr Jingle für Haustürbesuche, weil TikTok-Videos nicht mehr reichten? Clevere Marketingstrategie: Volkswiderstand. Nicht zu weit rechts, nicht zu weit links. Gerade richtig, damit das, was sie verkaufen wollten, Interesse beim Durchschnittsbürger fand.
Tom zog eine Augenbraue hoch. »Überall?«
Der Typ, der das Sagen hatte, nickte stoisch. »Noch nicht. Später.«
»Später. Ja, das sagen sie alle.« Wie seine Ex-Chefs, wenn er mehr Geld wollte. Immer später, nie jetzt.
»Herr Keller, ich bitte Sie …«
»Und Ihr Ausweis! Zeigen Sie mir den mal!«, fiel Tom ihm ins Wort. Der Gedanke kam ihm spontan - eine kleine Rebellion am Sonntagmorgen, warum nicht?
Der schweigsame Jungspund fuchtelte wieder mit dem Gewehr, jetzt ein wenig gereizter, als hätte er es plötzlich mit einer lästigen Fliege zu tun, die man nicht so leicht erwischen konnte.
Der andere verzog keine Miene, sondern spulte weiter sein Programm ab. »Die Situation ist ernst«, erklärte er in väterlichem Ton. »Das Viertel steht unter unserer Kontrolle. Zum Schutz der Bürger. Wir müssen wissen, wer hier wohnt.«
Er zog ein Tablet aus seiner Aktentasche. »Berlin versinkt im Chaos. Wir werden das ändern. Also zeigen sie uns bitte Ihren Ausweis. Eine reine Formalität. Zu ihrem Besten.«
Alles klar, keine Diskussion. Tom griff zu seiner Jacke, die neben der Tür an der Garderobe hing, fingerte das Portemonnaie aus der Innentasche und zog den Ausweis heraus, überreichte ihn den Spinnern.
Der Ältere nahm ihn mit einem dienstbeflissenem Nicken entgegen. Studierte das Ding mit der Sorgfalt eines Bankangestellten, verglich das Foto mit Toms schlafmüder Visage, warf einen Blick aufs Türschild. Dann tippte er in seinem Tablet herum - moderne Nazis, Buchhaltung digital, Terror 4.0.
»Perfekt, Herr Keller. Alles in Ordnung.« Er reichte den Ausweis zurück. »Sie werden in den nächsten Tagen neue Ausweispapiere erhalten. Bis dahin …« Er lächelte dünn. »Bleiben Sie einfach zu Hause. Die Straßen sind momentan zu unsicher. Aber wir kümmern uns darum.«
Jaja. Die Welt war voller Arschlöcher, und zwei von ihnen standen jetzt in seinem Hausflur. Sie verabschiedeten sich scheißfreundlich, gingen ein paar Schritte weiter und klingelten an der nächsten Tür. Die Schmidt würde sich bedanken. Das Wochenende war ihr heilig, um die Uhrzeit schlief sie gewöhnlich noch ihren Rausch aus. Wie so viele im Block.
Jeder hier kannte Gesine Schmidt. ‘Ne Schabracke, um die 50, halblange Haare, die meist wie verklebte Spaghetti in der Gegend rumhingen. Ansonsten eben Alk und Kippen, die Grundnahrungsmittel der Unterschicht.
Viel mehr wußte er nicht von ihr. Nachbarn, die einem nicht auf den Sack gehen, sondern lieber allein in ihrer Bude verrotten, waren unbezahlbar. Gesine meckerte nicht, wenn seine Mülltüten im Flur zwei Tage vor sich hinstanken, er hielt die Klappe, wenn sie bei offenem Fenster den halben Block mit Techno-Gewummer beschallte. Deal. Die perfekte deutsche Nachbarschaft - gegenseitige Ignoranz als höchste Form der Harmonie.

Tom schloß die Tür, warf Ausweis und Portemonnaie auf die Ablage und stürmte ins Wohnzimmer. Glotze und Laptop an, die Tür zum Balkon auf, hinaus. Der Wind trug den Geruch von Wut und Angst heran - zumindest in seiner Vorstellung. Ein weiterer Sonntag im Paradies der Abgehängten, nur jetzt mit uniformiertem Schutz. Wie seine Tochter immer sagte: Sei vorsichtig, was du dir wünschst. Du könntest es bekommen …
Er scannte die umliegende Nachbarschaft, so gut es seine maroden Augen vermochten. Aus dem Zwölften hatte er den perfekten Ausblick auf die Hellersdorfer Straße. Die Gegend war ruhig, viel zu ruhig.
Die berühmte Ruhe vor dem Sturm? Kein Zweifel, wenn die Post abging, würde er nie wieder so eine Show serviert bekommen. Wenn sie kamen - egal ob Polizei oder die Linken aus Kreuzberg - dann würden sie genau von dort kommen, von der Hellersdorfer. Ein Spektakel aus der ersten Reihe, Popcorn-Kino für Zyniker. Würde aber zum Kindergeburtstag degradieren, was er bisher in Marzahn erlebt hatte.
Schade, daß die Bundeswehr nicht durfte - aber die saß wahrscheinlich immer noch in ihren Kasernen fest und füllte Formulare in dreifacher Ausführung aus.
Oder freute er sich umsonst, hatten ihn die beiden Vögel einfach nur verarscht?
Zurück ins Wohnzimmer, Glotze an, Zappen durch die Nachrichtenkanäle, oha: Überall das gleiche Gelaber, die gleichen roten Laufbänder: Der »Nationale Volkswiderstand« war real, kein feuchter Traum paranoider Telegram-Gruppen. Die Typen hatten tatsächlich über Nacht Toms Viertel in Marzahn-Hellersdorf unter ihre Stiefel gestellt und ein »Neues Deutschland« ausgerufen. Mit der Nummer versuchten sie wohl, ein paar alte Ostblock-Nostalgiker und DDR-Romantiker auf ihre Seite zu ziehen, die hier ihre letzten Tage zwischen Plattenbau-Romantik und Altersarmut verbrachten. Nicht dumm - wenn man schon einen faschistischen Putsch plant, warum nicht gleich zwei Diktaturen zum Preis von einer?
Den Berichten zufolge waren über 2000 Kämpfer und Kämpferinnen des NVW in den Block eingefallen. Sie hatten die Hochhäuser entlang der Hellersdorfer und Zossener Straße gestürmt und sich auf Dächern und in Wohnungen verschanzt.
Türken, Arabern, Schwarzen hatten sie ‘nen Arschtritt verpaßt. Jedem, der ihnen nicht in den Kram paßte. Zack, raus aus der Bude! Den armen Schweinen wurden Zettel in die Hand gedrückt, kalt formulierte Drohungen inklusive: »Umgehendes Verlassen des markierten Bereichts wird dringend angeraten. Zuwiderhandlungen werden Konsequenzen haben.« Keine halben Sachen, den Tonfall hatten sie drauf. Und sicher auch den Schießbefehl als finale »Maßnahme«. Ganz normal im neuen alten Deutschland.
Tom rieb sich die Augen, schaltete um aufs Internet. Nachrichtenportale laberten eh nur denselben verdrehten Mist - gefiltert durch die Linsen von Quoten-Geilheit und politischer Korrektheit. Originalton war gefragt, der ungefilterte Wahnsinn, direkt aus dem Rachen der Monster.
Youtube war voll davon. Die »Erklärung des Oberkommandierenden des Nationalen Volkswiderstands« war das Video der Stunde, viraler als Katzenbabys oder Influencer-Skandale - Content-Marketing für den Endsieg. Tom klickte es an, übersprang die Werbung für Sportwetten und Kryptowährungen - selbst der Faschismus wußte sich dem Algorithmus beugen.
Ein Mann mittleren Alters erschien auf dem Bildschirm. In Uniform, mit gepflegtem Dreitagebart. Der Typ hatte die Ausstrahlung eines erfolgreichen Unternehmensberaters. Hinter ihm eine schlichte weiße Wand, das Logo des NVW dezent im Hintergrund.
»Mein Name ist Martin Storkowski«, sagte er mit ruhiger, kultivierter Stimme. Der Ton eines Mannes, der gewohnt war, daß man ihm zuhörte.
»Als Oberkommandierender des Nationalen Volkswiderstands verkünde ich hiermit die deutsche demokratische Erhebung gegen den von Zionisten und US-Imperialisten durchgeführten Bevölkerungsaustausch«, erklärte Storkowski, als würde er eine Quartalsbilanz präsentieren. »Vergangene Macht haben wir Marzahn-Hellersdorf befreit. Ein notwendiger Schritt zur Wiederherstellung der Ordnung.«
Er machte eine kurze Pause, sein Blick direkt in die Kamera. »Die Mietverträge aller nichteuropäischen Bewohner sind hiermit gekündigt. Das Volk ist dabei, diese unumgängliche Maßnahme umzusetzen.«
Tom stöhnte. Klar, Mietverträge als Mittel der Revolution – irgendwo in den Untiefen der Bürokratie wußte ein Immobilienhai Freudentränen vergießen.
Stokowski machte unbeirrt weiter: »Ich fordere jeden Deutschen und jeden Europäer auf, sich dieser Erhebung anzuschließen und sie zur Deutschen Demokratischen Revolution zu machen.« Demokratisch, klar.
»Alle wehrfähigen Männer und Frauen sollen sich zum Kampf melden. Wohnraum, Waffen und Munition sind vorhanden.« Tom schüttelte den Kopf. Ein faschistisches Startup mit Crowd-Sourcing. Der Typ hatte es echt drauf.
Storkowskis Stimme wurde wärmer, väterlich fast. »Niemand muß alleine bleiben. Gemeinsam schaffen wir ein neues Zuhause für unser Volk. Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche - und deshalb …«
»Nationale Volksverscheißer«, murmelte Tom und klappte den Laptop zu. Der Blödsinn raubte ihm den letzten Nerv, den Sermon konnte er sich wirklich sparen. Hatte er genug gehört? Oh ja - genug für ein ganzes Leben voller Albträume.
Außerdem meldete sich seine Blase mit einem Aufschrei, der keine weitere Verzögerung duldete. Er wußte pissen wie ein verdammtes Pferd. Die einzige ehrliche Reaktion auf soviel ideologischen Dünnschiß.
Auf dem Klo dann das gewohnte Drama: Die Blase entleerte sich widerwillig; der Strahl plätscherte dahin, als würde ein kümmerliches Bächlein einen verdorrten Hang hinunterrinnen. Krebs? Prostata im Arsch? Ja, das konnte sein. Oder auch nur Alterserscheinungen. Mit 66 zerfiel der Körper eben, das war der Deal. Aber wer hätte gedacht, daß er einmal zusammen mit alten Genossen und Faschisten auf Armageddon wartete? Als generationenübergreifende Gemeinschaft des Verfalls.
Doch eines war sicher: Diese Nazis waren zumindest gut für etwas Abwechslung. Die ewige Langeweile, diese lähmende Einöde war Geschichte. Zumindest für eine Weile, bis die Bullen die Nazis mit allem abräumten, was ihnen zur Verfügung stand. Tom stellte sich schon die martialischen Blaulichter vor, die Explosionen, das Gekreische überall im Block. Faszinierend. Endlich mal was los, Reality-TV live vor der eigenen Haustür!
Nach einer Weile ließ die elende Pisserei nach. Tom schnaufte durch, schüttelte ab. Zeit, sich um die praktischen Dinge zu kümmern. Ab in die Klamotten, runter zum Späti um die Ecke, solange der noch offen war. Das Herz des Viertels, der letzte Hort der Normalität, wo Bier und Zigaretten wichtiger waren als politische Ideologien. Es galt, die Vorräte aufzustocken für ein langes Abendprogramm. Vielleicht auch für länger, das Ende der Vorstellung war nicht abzusehen. Und gute Unterhaltung braucht nun mal Proviant.
Fünf Minuten später schob Tom einen Einkaufswagen durch den engen Gang des Spätis - der letzte Beutezug vor der Sintflut.
Der Laden war brechend voll, jeder griff nach dem, was ihm unter die Finger kam – Dosen, Wasserflaschen, Brot, Nudeln. Der gute alte Hamsterkauf war angesagt, den Kühlschrank füllen, bevor die Hölle losbrach. Die ewige deutsche Angst vor leeren Regalen, Corona-Trauma trifft Nazi-Putsch.
Niemand sagte ein Wort, nur hektisches Rascheln und Scheppern erfüllten den Raum. Dazu das Klappern von Einkaufswagen und das gelegentliche Knistern einer Plastiktüte.
Er schnappte sich eine Cola, dazu zwei Flaschen Apfelkorn, den billigsten Fusel, der im Regal stand. Wer konnte schon wissen, ob man sich später mit irgendwas Betäubendem über Wasser halten wußte? Dann eine Pulle Jack Daniels, zur Cola, für die erhebenden Momente. Keine Frage – wenn’s richtig knallt, muß man sich auch mal was gönnen.
Eine Tüte Chips. Ein paar Dosensuppen. Drei Packungen Marlboro – seit Jahren hatte er nicht mehr geraucht, aber die Kippen fühlten sich jetzt genau richtig an. Was machten ein paar weitere Teufelsstoffe in einer Welt, die sich selbst das Gehirn aus dem Schädel ballerte? Das Ende der guten Vorsätze, ein Abschied in Rauch. Lungenkrebs als das kleinere Übel im Angesicht von Martin Storkowski.
Er schob den Wagen zur Kasse, gefüllt mit Apokalypse-Essentials, als von draußen Lärm und Geschrei in den Laden drang, dazu das Getrappel vieler Schritte auf Asphalt - der Soundtrack wechselte von Shopping-Mall zu Kriegsfilm. Martinshörner heulten in der Ferne auf. Dann ein dumpfes Knallen, mehrmals hintereinander – Tränengasgranaten?
Ratatatatata. Verflucht, da wurde scharf geschossen! Panik griff um sich. Eine Welle der Angst rollte durch den Späti, die ersten stürmten zur Tür, stießen sich gegenseitig zur Seite, raus, weg hier, egal wohin. Andere behielten den Kopf halbwegs klar, stopften hastig ihre Rucksäcke voll, die Schnäppchenjagd war eröffnet. Der alte Mann an der Kasse schrie etwas, aber es war sinnlos. Der Laden war ein Schlachtfeld, und jeder war sich selbst der Nächste.
Tom sah sich kurz um und folgte der Menge. Erinnerte sich an Hannover ‘95, den Pennymarkt, aber diese Plünderung tickte anders. Es war eine finale Abrechnung, kein bloßer Ausbruch aus dem Alltag. Die Revolution fraß ihre Chipstüten.
Die Schiebetür glitt auf, und draußen empfing ihn der beißende Gestank von Tränengas. Seine Augen brannten, die Kehle war wie zugeschnürt. CS-Gas, das Parfüm häßlicher Konflikte. Er stolperte heimwärts, den Lärm von Schüssen und Sirenen im Nacken, die Cola und der Schnaps klirrten in der Tüte. Bis vor ihm die Tür zum Hausflurs seines Hochhauses auftauchte. Rein, ab in den Fahrstuhl.
Als sich die Aufzugtür schloß, wagte er wieder zu atmen. Er grinste. In der Zwölften wieder raus, in großen Schritten zur Wohnung, zack, rein in die Bude, die Einkäufe flogen auf den Tisch. Die Schnappsflaschen klirrten bedrohlich, blieben aber heil. Kein Luxus war zu verschleudern, nicht in Zeiten wie diesen.
Dann ging’s raus auf den Balkon. Zur Live-Übertragung: Wie erwartet, war das Testbild einem Vollprogramm gewichen. Dem perfekten Blick auf den Tumult, unbezahlbar in diesen Zeiten.
Auf der Straße hatte sich das Spektakel bereits zum Inferno gesteigert. Ein gewaltiges Durcheinander, ein Schlachtfeld, das sich als tobende Ameisenarmee selbst malte. Vermummte Gestalten rannten durch die Gegend, verschwanden in Hauseingängen, tauchten wieder auf, ballerten, fluchten. Schüsse knallten, der beißende Rauch stieg aus einem lodernden Feuer in die Höhe. Tom verfolgte, wie ein Polizeitransporter – früher hieß so ein Ding ‘Wanne’ – unter wildem Blaulicht vorbeiraste, der Molotowcocktail, der ihn verfehlte, explodierte an einer Mauer, ein Regen aus glühenden Splittern.
Er bemerkte in einem der gegenüberliegenden Fenster ein nervöses Gesicht, das zwischen den Gardinen hervorlugte - ein anderer Neugieriger, ein Spiegelbild von Toms eigener Faszination. »Sieht aus, als wär’ die Kacke am Dampfen!«, rief er und winkte. Keine Reaktion. Hatte ihn wohl nicht gehört. Der Lärm übertönte alles, selbst im Zwölften.
Tom stand eine halbe Stunde da, unfähig, sich loszureißen. Die Stadt implodierte vor seinen Augen. Ein Gefühl, irgendwo zwischen Schock und wilder Euphorie, packte ihn – eine Welle aus der Vergangenheit, aus Tagen, die er längst begraben geglaubt hatte.
Verdammt, ich brauche ‘ne Pause, dachte er schließlich, als seine Nerven zu sirren begannen. Die Balkontür glitt mit einem zufriedenstellenden Klicken hinter ihm zu - das Chaos war ausgesperrt, drinnen herrschte Ordnung.
Im Regal standen die Bücher wie Soldaten, staubfrei wie überhaupt jeder Gegenstand und jede Oberfläche der Wohnung. Er hatte Monate damit verbracht, die Wohnung auf Vordermann zu bringen und genau so einzurichten, wie er es ausgetüftelt und aufgezeichnet hatte. Um sich vor seinem früheren Leben abzuschotten. Nachdem Sandra den Kontakt zu ihm abgebrochen hatte, weil sie ihn einfach leid war. Weil er alles verloren hatte, war das hier der Rest, der ihm geblieben war. Er war hierhin geflohen, nur weg von allen, die er kannte und die ihn kannten. Draußen mochten sich alle aufführen wie sie wollten, aber hier drinnen waren seine Regeln Gesetz.
Wie ferngesteuert wandelte er zur Küche, wo der Kühlschrank bei genau 2,4 Grad unter der Standardeinstellung monoton summte - das errechnete Optimum nach wochenlangen Tests. Die weiße Oberfläche spiegelte Toms Gesicht wider, kein einziger Fingerabdruck war zu sehen.
Er nahm eine Dose Bier heraus. Die Kälte des Metalls beruhigte ihn. Es fühlte sich echt an. Real. Ganz im Gegensatz zu den Typen da draußen, die die Stadt als Bühne für ihre politischen Fantasien mißbrauchten. Ein schlechter Film, der Spuk würde bald wieder vorbei sein, so wie Kreuzberg ‘81, als er selbst eine der vermummten Gestalten war. Jetzt gab’s das gleiche Theater von Rechtsaußen.
Er riß die Dose auf, trank, spürte das kühle, prickelnde Gift in seiner Kehle, als könnte es die Vorstellungskraft eines Mannes reanimieren, der längst aufgegeben hatte. »Was für eine Show«, murmelte er, lehnte sich an den Kühlschrank und lauschte dem Spektakel der zerbrechenden Stadt.
Er ging ins Wohnzimmer, ließ sich aufs Sofa fallen und klappte den Laptop auf. Wollte wissen, was der Rest der Welt zu sagen hatte zu dem Feuerwerk, das hier abging.
Ein Klick auf das X-Icon, das für ihn immer noch Twitter war und bleiben würde, egal, wie viele Branding-Strategen daran herumdokterten. Dem Millionengrab mit Vogel-Logo, dem digitalen Schlachtfeld der Schreihälse und Wahnsinnigen.
Der Feed explodierte förmlich: #NazisInMarzahn. #BerlinInFlammen. #Polizeigewalt #Neukölln – hey, was war da los in Neukölln? Noch mehr Nazis? Nee, ganz andere Sendung. Dort lief zwar seit einer halben Stunde die selbe Show wie in Marzahn-Hellersdorf - aber im Spiegeluniversum, mit anderer Rollenbesetzung. Mit Blick von der anderen Seite der Bürgerkriegsbarrikade, wohlpatziert in – Neukölln!
Die »Söhne des Propheten« waren dort nun am Ruder, eine Reaktion so absehbar wie die Keule im Nahkampf. Der Mob hatte Barrikaden rund ums Neukölln errichtet, alles was brennen konnte, wurde angezündet. Deutsche wurden aus ihren Wohnungen geprügelt, wer zu blaß aussah, bekam die Faust der Revolte zu spüren.
Überall flatterten türkische, grüne und schwarze IS-Fahnen. Symbole einer alternativen Realität, in der das Abendland schon untergegangen war. Die aus dem benachbarten Hellersdorf vertriebenen Musels wurden als Märtyrer empfangen, mit Beifall, Jubel und den Rufen von »Allahu Akbar«, die durch die Straßen hallten.
Wunderbar, dachte Tom, das Durcheinander hatte seine eigene, perverse Logik. Die Neuankömmlinge konnten gleich die Wohnungen der vertriebenen Ungläubigen übernehmen. Die Revolution hat schließlich Hausrecht. Aber was war mit den Vietnamesen und Schwarzen? Tja, Pech gehabt. Die waren nicht zahlreich genug, um ein eigenes Viertel zu beanspruchen. Minderheiten dritter Klasse beim großen Neustart.
Klick. Klick. Klick. Was das? Nichts ging mehr. Der Newsfeed war tot, das endlose Rauschen der digitalen Empörung erlosch, als hätte jemand den Stecker gezogen. Kein neues Futter für das sehnsüchtige Herz des Newsjunkies.
Tom griff zur Fernbedienung, schaltete den Fernseher ein. Aber auch da Funkstille.
Ok. War ja klar, mußte so kommen. Irgendwer hatte das Kabel gekappt. Die Regierung, die Nazis, die Dschihadisten, egal. Die Kommunikationsadern des Feinde abschneiden, das hatte in jedem Krieg Priorität. Bürgerkrieg für Fortgeschrittene, Kapitel eins.
Tschüß, Netflix und Amazon. Die waren jetzt auch tot. So viel zu Serienmarathons in der Endzeit.
Aber Tom war vorbereitet. Eine Monster-Festplatte voller Filme würde ihm Gesellschaft leisten. So schnell würde ihm nicht langweilig. Und das Beste: Seinen Balkon konnte niemand abklemmen. Ein Super-TV-Screen mit 3D-Ausblick auf das Spektakel, live und ungeschnitten.
Eine Sache jedoch bereitete ihm Kopfzerbrechen. Da war etwas irritierend Professionelles an diesen Aufstand. Die Art, wie sie ihre Linien hielten. Wie sie koordiniert vorgingen. Keine wilden Horden, die konfus durch die Straßen tobten. Ihre Trupps bewegten sich wie trainierte Einheiten, sicherten systematisch Gebäude und Kreuzungen. Ab und zu sah er Sanitäter in sauberen weißen Kitteln, die Verwundete versorgten.
Die wußten, was sie taten. Das war das Beunruhigende. Sie hatten einen Plan, und der ging über simples Randalieren hinaus. Tom dachte an die beiden von heute Morgen, ihr Tablet, die penible Erfassung. Die methodische Übernahme eines Stadtteils.
Es klingelte. Tom fluchte leise, stellte die Bierdose ab. Wer zum Teufel wagte es denn jetzt schon wieder, ihn zu stören? Schon wieder die uniformierten Volkszähler? Er öffnete die Tür.
Gesine Schmidt stand auf der Matte, in einem speckigen Trainingsanzug. Ihr Haar hing in wirren Strähnen, sie roch nach billigem Schnaps. Der lebende Beweis, daß manche Dinge sich nie ändern.
»Morjen Tom«, krächzte sie, die Stimme rau wie ein Reibeisen. »Bei mir is’ allet im Arsch – Fernseher, Internet, det janze Jelumpe. Keen Saft mehr uff’er Leitung. Und denn diese beeden Spacken vorhin mit ihre Ballerbüchsen und all der Lärm von irjendwoher. Wat jeht’n hier ab, wa?«
»Geh auf deinen Balkon. Dann siehst du’s selbst.«
Gesine verdrehte die Augen. »Wa? Jeht nach hinten raus, du Pfeife. Da is’ tote Hose.«
Tom lachte. »Stimmt. Glatt vergessen. Komm rein.«
Sie folgte ihm ins Wohnzimmer, ließ ihren Blick durch die Regale schweifen, blieb an den Flaschen auf dem Tisch hängen. »Sachma, haste noch wat zu trinken für ne arme Seele?«
Tom zuckte mit den Schultern, griff nach der Flasche Apfelkorn und reichte sie ihr. Gesine öffnete sie, nahm einen langen, kräftigen Schluck. Sie keuchte, schüttelte sich.
»Ick gloob, dit is Lack! Watte hier für’n Fusel säufst!«
»Beste Qualität aus’m Späti. Hamsterkauf, du verstehst?«
Gesine wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab.
»Also, wat jehtn hier wirklich ab?«
Tom zeigte auf den Balkon. »Sieh selbst.«
Sie trat hinaus, und innerhalb eines Augenblicks verfiel die Welt vor ihren Augen in Flammen, Detonationen, Geschrei. Gesine pfiff leise durch die Zähne.
»Hejejej … Dit sind doch nich etwa …«
»Nazis. Ja.«
»Herr im Himmel!« Sie starrte auf den brennenden Horizont. »Siehste dit? Janz Berlin brennt ja wie’n Feuerwerk!«
Tom lächelte grimmig. »Nicht nur hier. In Neukölln wollen sie’s auch wissen. Aber mit Allahu Akbar statt Sieg Heil.«
Sie starrte auf die Straße, auf die Vermummten, auf die brennenden Mülltonnen und die zuckenden Blaulichter, die sich wie geisterhafte Stroboskope durch den Qualm wühlten.
»Und wat machen wa jetzt?«, nuschelte sie, die Angst in ihrer Stimme versteckt hinter einem dicken Mantel aus Berliner Schnoddrigkeit.
Tom zuckte mit den Schultern. »Zusehen und saufen?«
Gesine setzte sich neben ihn, ihre Augen huschten zum Laptop. »Jeht der noch?«
»Nur offline. Aber ich hab ‘ne Festplatte voller Filme.«
Sie hob die Augenbrauen. »Na, dit is doch wat. Un nu? Porno oda Splatter?«
Tom grinste. »Vielleicht später. Erst mal bleib ich auf dem Balkon. Da läuft ‘n besserer Film.«
Gesine kicherte, aber es klang wie ‘ne rostige Dose, die die Straße runterrollt. Sie stieß mit ihrer Pulle gegen Toms Bierdose. Ein makabrer Toast auf eine Stadt im Ausnahmezustand. Ein Hoch auf den Irrsinn. Zwei verlorene Seelen auf einem sinkenden Schiff, vereint im Ritual des gemeinsamen Untergangs. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als zuzusehen und auf den Abspann zu warten.
»Ick sach dir wat«, meinte Gesine und ließ sich auf einen der Balkonstühle plumpsen, »dit wird ‘ne lange Nacht. Haste noch mehr von dem Fusel?«
Tom stellte zwei Gläser und die Flaschen auf den kleinen Tisch zwischen ihnen, dazu eine Tüte Chips - trostlose Partydeko für ihr post-apokalyptisches Picknick mit Panoramablick. Die Sonne stand hoch am Himmel, ein zynischer Strahler, der die surreale Szenerie gnadenlos ausleuchtete. Keine dramatische Abenddämmerung, nur diese grelle, beißende Helligkeit, die alles noch absurder wirken ließ.
»Ich hab ‘ne Superkraft«, sagte Tom nach einer Weile und lutschte an seiner Whisky-Cola.
»Soso«, machte Gesine und drehte weiter mit zitternden Fingern an ihrer Zigarette. Ihre Hände verrieten jahrelange Übung im Umgang mit Nervosität.
»Ich bin die menschliche KI. Früher hätte man mich als Wahrsager verehrt. Oder als Propheten.«
Tom klopfte sich an die Stirn. »Glotze und Internet sind tot, und trotzdem ist alles hier drin. Der große Nostradamus.«
Gesine rollte die Augen. »Denn mal los mit deine Wahrsajerei, wa?«
Tom legte die Fingerspitzen an die Schläfen und schloß theatralisch die Augen. »Die Rechten«, begann er, »fordern morgen früh ‘ne Grundgesetzänderung. Damit die Bundeswehr in Neukölln einmarschiert und tabula rasa mit den islamistischen Kriegern macht. Für Marzahn-Hellersdorf schlagen sie Verhandlungen vor – ‘zum Schutze der Bevölkerung’, versteht sich.«
Seine Stimme wurde zum Nachrichtensprecher-Bariton. »Nicht nur die Rechten, auch die Linken machen die Regierung verantwortlich. Die rassistische Politik, heißt es, sei schuld am faschistischen Überfall in Marzahn-Hellersdorf, der von der Polizei bewußt nicht mit der nötigen Härte verhindert wurde. Weil sie mit den Nazis im Bunde sind. In Neukölln dagegen wollen die Linken deeskalieren, Gespräche führen - bloß keine ‘Scharfmacherei, die den Rassisten in die Hände spielt’! Und die Einen wie die Anderen rufen ihre Anhänger nach Berlin. Um die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Und da die Polizei damit völlig überfordert ist, kommen irgendwann die Amis mit ihren Spezialeinheiten und …«
»Reicht! Kopp zu!«, fuhr Gesine dazwischen.
Tom blinzelte. »Was?«
»Hör uff mit dem Jelaber«, wiederholte sie scharf. »Ick kann dit Klugscheißer-Jeschwätz nich mehr hören.«
Schweigen. Sie tranken ihre Whisky-Cola, griffen in die Chipstüte, während unten Krieg herrschte und man sich gegenseitig über den Haufen ballerte. Was sollten sie auch sonst tun, wenn die Irren aufmarschierten, um die Welt zu retten? Auf irgendeiner Seite mitmachen?
Tom hatte schon viel Scheiße gesehen, aber dieser Tag setzte allem die Krone auf.
»Dit reicht mir mit die janzen Besserwisser«, brummte Gesine und knüllte die leere Chipstüte zusammen. »Immer wissen se allet besser - wat los is, wer Schuld hat, wat als nächstet kommt. Und wenn’s anders kommt, jeht der Quatsch von vorne los. Kenn ick noch von der BILD.«
Tom zog die Augenbrauen hoch. »Ich bin nicht die BILD.«
»Ick aber. Sportredaktion. Vier Jahre.«
»DU bei der BILD? Das soll ich glauben?«
»Na klar, war’n jutet Ding. Bis die KI kam.«
Tom lehnte sich zurück. »Tja. Fortschritt und so.« Er nahm einen Schluck. »Ich war Hausmeister. Bis ich ‘nem türkischen Bengel eine gescheuert hab. Der kleine Scheißer hat das Klo zerdeppert.«
»Du hast’n Kind vahauen?« Ihre Stimme wurde scharf wie ein Rasiermesser.
»Er war kein Kind mehr. Fünfzehn, sechzehn vielleicht. Und ich hab ihm nur eine gelangt.«
Gesine musterte ihn, als sähe sie ihn zum ersten Mal. »Na klar, keen Wunder daste jeflogen bist.«
»Plötzlich war ich der Rassist. Shitstorm und alles. Haben mir Drohungen an die Tür geschmiert. Dabei hab ich nur meinen Job gemacht.«
»Womöglich biste ja eener.«
Tom erstarrte. »Was zum Teufel soll das heißen?« Seine Stimme zitterte leicht, als hätte sie einen Nerv getroffen.
Gesine wedelte ab. »Vajiß et.«
Wieder Schweigen. Sie beobachteten die Kämpfe unten auf der Straße.
»Glaubst du, das hört bald wieder auf?«, fragte Gesine schließlich.
Tom zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wir warten einfach ab. Bullen, Amis, Aliens – hatten wir ja schon alles.«
»Wa? Und denn is allet wieder normal, oda wat?«
»Normal …«, sagte er, »Was ist schon normal? Bist du normal? Ich?«
Gesine nahm noch einen Schluck, starrte in den glühenden Horizont. »Vielleicht isset ja dit neue Normal«, murmelte sie mehr zu sich selbst. Ein Gedanke, der irgendwo im Nichts verschwand, während sie sich auf der Straße weiter an die Gurgel gingen. Zwei gescheiterte Existenzen, die dem Untergang zusahen wie einem Fernsehprogramm.
So saßen sie da, stundenlang. Ein Drink folgte dem nächsten, und der Rauch ihrer Zigaretten zog in trägen Spiralen in die kühle Abendluft. Gesine beugte sich zu ihm hinüber, hielt ihre Hand vor sein Gesicht, damit er die Kippe zwischen ihren Lippen anzünden konnte. Der kleine Funke aus Toms Feuerzeug schien für einen Augenblick die Dunkelheit zwischen ihnen zu durchbrechen.
Sie sprachen über Filme, die sie beide irgendwann mal gesehen hatten – alte Tarantino-Klassiker, die jetzt so weit weg schienen wie Filme aus einer vergangenen Zivilisation. Sie redeten über Bücher, die keiner mehr las, über die Zukunft, die nicht mehr in ihren Händen lag. Die Vergangenheit fühlte sich an wie ein alter Freund, der sich in Luft aufgelöst hatte.
Schließlich verabschiedete sich die Sonne endgültig. Das Viertel wurde still. Die Kampfgeräusche, das wilde Geschrei – alles verstummt.
Am frühen Abend war der Vorhang gefallen, als hätte der Krieg selbst Pause eingelegt, um Luft zu holen. Die Bullen waren abgezogen, hatten wohl keine Lust mehr, sich abknallen zu lassen. Die Eroberer des Viertels hingegen hockten irgendwo, leckten ihre Wunden und freuten sich vermutlich darauf, morgen mit neuem Eifer weiterzumachen.
Würde wohl auf die Amis hinauslaufen, dachte Tom. Wenn die Bundeswehr nicht doch noch den Marschbefehl bekam, wenn sich alle Parteien zusammenrauften. Die Antifa? Die war nicht aufgekreuzt, also kein Wort mehr darüber. Oder hatten sie verstanden, daß Steine zu werfen hier nicht reichen würde, weshalb sie größere Kaliber vorbereiteten? Aber Tom schwieg. Keine Spekulationen mehr.
Die Dunkelheit breitete sich aus, erstickte die Straße in ihrer Umarmung. Ab und zu ein Blitz, gefolgt vom flackernden Licht eines weit entfernten Feuers, das hoch in den Himmel stieg. Neukölln?
Asche von Gesines Kippe fiel auf den makellosen Boden. Tom bemerkte es, sagte aber nichts. Es juckte ihn in den Fingern, den grauen Fleck sofort mit Staubsauger und Lappen zu Leibe zu rücken. Er riß sich zusammen. Nicht jetzt.
»Mann, wird’s kalt hier draußen«, murrte sie und rieb sich die Arme. »Laß ma rinjehn.«
Sie standen auf, berührten einander zufällig an den Armen. Tom versteifte sich. Die Berührung schickte ein Rauschen durch seine Synapsen und erschütterte ihn. Er machte einen schnellen Schritt hinein ins Wohnzimer, wo er nach der Fernbedineung griff und den Fernseher anschaltete. Immer noch Funkstille, nur das hoffnungslose »Kein Signal gefunden«.
Er wechselte den Eingangskanal und scrollte durch die Festplatte, suchte einen Film aus. Re-Animator, ein alter Splatter-Film. Die Bilder spritzten hektisch über den Bildschirm, aber irgendwas daran rockte nicht mehr.
»Nicht gut gealtert«, sagte Tom.
Gesine nickte. »Wart ma kurz. Bin gleich wieda da.«
Sie stand auf, schlurfte rüber in ihre Wohnung, kam bald darauf mit mehr Schnaps und einer halb aufgerissenen Packung Salzstangen zurück. Sie stellte die Beute auf den Tisch, die Bewegungen träge, fast hilflos.
»Na wat is nu - wollten wa nich noch Pornos kieken?«, fragte sie, ihr Blick halb herausfordernd, halb gelangweilt, als wollte sie sehen, ob er den Witz verstand – die Einladung.
Tom lachte leise, aber das Lachen klang hohl. Es kam ihm vor, als wäre alles schon entschieden. Eine Szene, die ablaufen wußte, ferngesteuert wie die Idioten, die sich gegenseitig die Schädel einschlugen. Trotzdem saß da noch ein Funken, eine unausgesprochene Möglichkeit.
Gesine ließ sich neben ihn auf das Sofa sinken, so dicht, daß ihre Schultern sich berührten. Diesmal nicht zufällig. Sie griff nach der Fernbedienung, schaltete den Film aus. Der Bildschirm wurde schwarz. Sie sah ihn an, und er spürte ihren Atem, warm und nach Alkohol riechend. Ihre Hand legte sich auf seine, und es war keine zärtliche Berührung, sondern etwas Rohes, Notdürftiges.
Sie beugte sich zu ihm, und ihre Lippen trafen seine, vorsichtig zuerst, dann fordernder. Eine Weile machten sie einfach weiter, wie ein Automatismus, als würde der Körper von alleine wissen, was zu tun war. Ihre Finger wanderten über seine Brust, nestelten an den Knöpfen seines Hemds. Tom zog sie näher, seine Hände in ihrem Haar. Ein hastiges Ausziehen folgte, Kleidung landete auf dem Boden wie abgeworfener Ballast.
Sie stöhnte leise, als seine Lippen ihren Hals fanden. Ihre Nägel gruben sich in seine Schultern. Draußen war es still geworden, nur ihr schwerer Atem füllte den Raum. Tom versuchte, sich zu verlieren, den Wahnsinn auszublenden, die inneren Zweifel auszublenden, die an ihm nagten. Seine Hände erkundeten ihren Körper, spürten Narben, deren Geschichte er nicht kannte.
Gesine zog ihn mit sich, als sie sich zurücklegte. Ihre Beine umschlangen seine Hüften. Aber da war sie wieder, diese verdammte Blockade. Sein Schwanz streikte, weigerte sich mitzuspielen. Es war, als hätte er den Absprung verpaßt - zu viel Alkohol, zu viel Adrenalin, zu viel Angst. Irgendetwas war eh kaputt in dem Ding, nicht erst seit gestern.
Gesine bemerkte es, hielt inne. Ihre Lippen verharrten an seinem Hals, und für einen Moment blieben sie beide einfach so, peinlich berührt und schweigend. Sie löste sich von ihm, ließ sich zurückfallen und sah an die Decke.
Tom drehte sich um, wollte reden, irgendeine Erklärung abgeben, aber die Worte steckten im Hals fest. Er warf sich auf die andere Seite des Sofas, den Blick zur Wand, und hielt die Klappe. Es gab nichts zu sagen, nichts zu erklären.
Gesine seufzte leise, griff nach der Apfelkornflasche, nahm einen tiefen Schluck. »Scheiß drauf«, murmelte sie. Zog sich ihr T-Shirt wieder über, mit ungelenken Bewegungen, als würde sie einer bizarren Choreographie folgen. Dann fegte sie die Sitzkissen auf den Boden und legte sich erneut neben ihn.
Sie blieben stumm nebeneinander liegen, die Distanz zwischen ihnen fühlbar, aber nicht unbedingt feindlich. Eher eine Art resigniertes Einverständnis, daß sie beide zu viel getrunken und geredet hatten. Noch ein Wort, noch ein Satz – bis irgendwann keiner mehr gewußt hatte, warum sie überhaupt sprachen. Worte halfen nicht, Worte waren leer.
Sie blieben liegen und warteten darauf, daß die Dunkelheit vielleicht irgendwann etwas anderes mit sich brachte. Aber jetzt war alles einfach nur still.
Am nächsten Morgen war sie weg. Keine Spur von Gesine, nur leere Flaschen und der abgestandene Geruch von Zigaretten und Fusel in der Luft.
Er öffnete alle Fenster, ließ die kühle Morgenluft herein. Ein Moment der Erleichterung durchströmte ihn. Gesine war Teil des Programms gewesen, das draußen lief - in der Stadt, der ganzen Welt. Ein Grund, weshalb er sich hierhin verkrochen hatte. Um Ruhe zu haben.
Er war gerne allein. Hier, im zwölften Stock, in seiner Trutzburg. Ihm reichte der Balkon. Die Glotze, das Internet, wenn beides zuverlässig angeliefert wurde. Um die geschwätzige Menschheit auf sicherer Distanz zu halten. Sich der Versuchung zu verweigern, selbst in die Kakophonie einzustimmen.
Das klappte bislang gut. Er laberte niemanden voll, und keiner sagte ihm, was er zu tun oder zu lassen hatte. Bis heute.
Er schlurfte Richtung Balkon, öffnete die Tür, und die Morgensonne blendete ihn, scharf und grell, als wolle sie ihn bestrafen. Die Straße unten lag vor ihm wie ein wachgewordener Albtraum. Ein paar Gestalten schlichen ziellos durch die Straßen, taumelnd, langsam, mit einem apokalyptischen Vibe, der an Zombies aus einem billigen Horrorstreifen erinnerte.
Die Stadt klang anders. Das übliche Verkehrsrauschen war einem unheimlichen Stakkato gewichen - dem gelegentlichen Krachen in der Ferne, manchmal Schreie. Schüsse? Oder doch nur das Geknattere eines lädierten Auspuffs?
Auch im Vergleich zu gestern abend hatte sich die Geräuschkulisse verändert. Sie wirkte bedrohlicher, wilder. Als würde die Stadt atmen, keuchend, gequält. Oder vielleicht war es nur seine Einbildung, sein Verstand, der langsam den Verstand verlor.
Tom starrte auf die Straße, und die Zeit kroch vorwärts wie eine altersschwache Schnecke, dehnte sich endlos. Warten. Warten worauf? Er wußte es nicht. Auf eine Entscheidung, eine Wendung? Irgendein Zeichen, das sagte: So, jetzt geht’s in diese oder jene Richtung! Aber nichts. Nur der trostlose Stillstand.
Sein Magen knurrte, der Hunger war unnachgiebig und verlangte nach dem gewohnten Frühstück.
In der Küche inspizierte er seine Vorräte. Ein paar Konserven. Ein Brot, das langsam hart wurde, steinhart, wie ein mißlungenes Experiment. Die zerknüllte Chipstüte, außer ein paar Krümeln war nichts übriggeblieben. Im Späti gab’s jedenfalls nichts mehr zu holen.
Er öffnete eine Dose Ravioli, löffelte sie kalt, während seine Gedanken abschweiften. War das Viertel wirklich fest in Nazi-Hand? Hatten sie ihre Forderungen durchgedrückt? Oder waren Linke plötzlich mit Bomben und Granaten aufgetaucht, um den Gegenschlag zu führen? Vielleicht war ja auch schon alles vorbei und er hatte es wieder mal nicht mitbekommen? Tom zwang sich zu einem Kopfschütteln. Nein. Keine Spekulationen. Schlimm genug, daß ihm die Antworten fehlten. Noch schlimmer, daß sie ihn trotzdem quälten.
Es klingelte. Jemand war an der Tür. Tom erstarrte, den Löffel auf halber Strecke zum Mund. Wieder Klingeln, diesmal dringlicher.
Wahrscheinlich Gesine, verkatert auf der Suche nach Alk-Nachschub. Aber irgendetwas an diesem Klingeln jagte ihm einen eisigen Schauer über den Rücken.
»Herr Keller?« Eine Stimme wie aus dem Kundenservice-Handbuch. »Nachbarschaftshilfe. Wir sehen nach den Bewohnern, bringen Versorgung, falls nötig.«
Tom hielt den Atem an. Dann gab er sich einen Ruck.
»Ich brauche nichts!«, bellte er durch die geschlossene Tür. »Hab alles, was ich brauche. Laßt mich in Ruhe!«
»Aber Herr Keller, in Zeiten wie diesen …«
»Ich sagte NEIN!« Er drückte beide Hände flach gegen die Tür, als müsse er die drohende Fürsorge körperlich abwehren. Hier kam niemand rein. Keine Nazis, die auf Sozialarbeiter machte, nicht Gesine, niemand. Na ja, Sandra sicher - aber seine Tochter würde es eh nicht ins Viertel schaffen. Es gar nicht erst wagen. War auch besser so. Sicherer.
»Wir kommen morgen wieder, mit frischem Brot unserer lokalen Bäcker-Initiative. Unsere Heimat – alles für Deutschland!«
Schritte verhallten. Tom atmete langsam aus, Wut und Angst brannte in seiner Kehle. Ihr »Deutschland« konnten sie sich in den Arsch schieben. Seine einzige Heimat war diese Wohnung hier, der Rest konnte ihm den Buckel runterrutschen.
Er zog den Schlüssel auf der Tasche, steckte ihn ins Schloß und drehte zweimal. So leicht würden sie hier nicht reinkommen, er war bereit, seine Burg mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Und er würde die Zugbrücke erst wieder herunterlassen, wenn das Problem vom Tisch war. Wer immer es auch lösen mochte – bis dahin würde er keinen Schritt mehr vor die Tür setzen!
Der Rest des Tages löste sich in geordneten Mustern auf, ohne irgendwelche Anzeichen auf Veränderung. Tom registrierte die Patrouillen, ihre gewissenhaften Manöver, die Regelmäßigkeit ihrer Runden. Als er gegen elf den Tag beendete, war er von der Observation der ereignislosen Routine derart erschlöpft, daß er sofort in einen traumlosen Schlaf fiel.
Die Morgensonne weckte ihn wie ein Scheinwerfer. Er hatte vergessen, die Vorhänge zuzuziehen. Pissen, ein Schluck Wasser, dann mit einem Bier auf seine Premium-Aussicht, die Lage checken.
Nichts hatte sich geändert. Die Versuchung nagte an Tom, eine weitere Mütze Schlaf zu nehmen.
Nach gut einer Stunde Dösen und Glotzen in bleiernde Langeweile änderte sich die Szenerie. Weiße Transporter mit dem Logo des »Nationalen Volkswiderstands« fuhren auf und bezogen Position an strategisch wichtigen Punkten. Vom Zwölften aus konnte er die systematische Verteilung erkennen - alle paar Blocks einer, als Ankerpunkte einer neuen Ordnung.
Eine mobile Feldküche fuhr heran und macht gleich unter seinem Balkon halt. Dampf stieg bis zu ihm hoch. Menschen bewegten sich in darauf zu, aber es gab kein Gedränge. baöd bildeten die Leute eine Schlange. Uniformierte koordinierten den Ablauf mit ruhigen Handzeichen. Von oben sahen die Menschen aus wie Ameisen, die einem unsichtbaren Muster folgten.
Sanitätertrupps in weißen Kitteln bewegten sich systematisch durch die Straßen, von Haus zu Haus. Tom sah, wie sie Alte und Kranke stützten, sie zu Transportern geleiteten. Wie ein gut geöltes Räderwerk.
Den zweiten Tag nun verfolgte er die Entwicklung im Block, und sie erschien ihm mehr und mehr wie eine bizarre Reality-Show. Die Uniformierten arbeiteten in konzentrischen Kreisen, das konnte er von seiner Aussichtsplattform gut erkennen. Sie sicherten nicht nur die Straßen, sie übernahmen systematisch die Abwicklung der alltäglichsten Dinge.
Reparaturtrupps nahmen ihre Arbeit auf. Wo gestern noch Scherben lagen, waren heute neue Scheiben eingesetzt. Die Graffiti verschwanden unter frischer Farbe. Sogar der Müll wurde sortiert und abtransportiert - deutsche Gründlichkeit selbst im Ausnahmezustand. Selbst die Graffiti-Säuberung folgte strengen Protokollen: erst dokumentieren, dann entfernen, schließlich neu streichen in passenden Farben. Die Pedanterie breitete sich aus wie ein Virus, infizierte jeden Winkel des »Neuen Deutschland«.
Ein Lautsprecherwagen tauchte auf und verbreitete Botschaften des NVW. Die Worte drangen als kaum verständliches Echo zu ihm hoch, aber die Botschaft war klar: Hier entstand eine neue Ordnung. Eine Gemeinschaft.
Manchmal fragte er sich, ob er völlig den Draht zur Wirklichkeit. Da saß er in seinem Hochhaus-Aquarium, trank lauwarmes Bier zum Frühstück und sah, wie die Nazis eine perfekte kleine Gesellschaft aufbauten. Wie eine perverse Version von »Die Sims« - nur daß die Spielfiguren echt waren.
Sein Blick schweifte weiter. Am Horizont stiegen Rauchsäulen auf - in Neukölln ging es anscheinend immer noch ab. Was war da los? Versuchten die islamisten, ihren Machtbereich zu erweitern – oder waren ihr Aufstand eine spontane Revolte, der nun von der Polizei systematisch zerschlagen wurde?
Tom wußte es nicht, er konnte wieder nur spekulieren. Was er jedoch wußte – hier lief alles wie geschmiert. Die Effizienz war beängstigend. Beruhigend. Beängstigend, WEIL sie beruhigend war.
Er nahm noch einen Schluck. War es wirklich so schlimm? Kümmerte sich sonst irgendjemand um dieses Ödland? Die Stadt hatte sie längst aufgegeben, sie alle in ihre Betonbunkern.
Ein Klingeln unterbrach seine Gedanken. Nicht harsch, nicht drängend. Ein normales, höfliches Läuten. Und pünktlich wie die Maurer. Früher. Die wohlmeinenden Nachbarschaftsnazis auf ihrer Morgenrunde.
»Herr Keller?« Diesmal eine Frauenstimme, warm und herzlich. »Wir haben Vorräte gebracht. Das Nötigste. Und unser Arzt macht die Runde - nur kurze Checks, besonders für unsere älteren Bewohner.«
»Brauchen Sie Informationen über Ihre Tochter Sandra?«, fügte eine Männerstimme hinzu. »Unser Netzwerk reicht über Hellersdorf hinaus. Wir könnten sie aufspüren, damit sie Kontakt mit ihr aufnehmen können.«
Toms Kiefer spannte sich. Sandra. Die führten wohl über jeden Akten.
»Wir verstehen, daß Sie vorsichtig sind«, wieder die Frau. »Aber das sind schwere Zeiten. Niemand sollte das allein durchstehen.«
Leises Stimmen, Papierrascheln. »Wir lassen die Vorräte hier. Frisches Brot, ein paar Konserven. Der Arzt kann auch zu einer anderen Zeit kommen. Denken Sie darüber nach, Herr Keller. Gemeinschaft bedeutet, aufeinander zu achten.«
Schritte verhallten. Ihre Fürsorge hing wie Giftgas in der Luft. Tom warf einen Blick auf die Uhr - 9:17. Er hatte ihre Besuche notiert: 9:20 gestern, 9:15 vorgestern.
»Verpißt euch«, murmelte er, ohne seinen Beobachtungsposten zu verlassen. »Kein Gramm rühre ich von Eurem braunen Fraß an! Lieber verrecke ich!« Von ihm aus konnten überall im Block Sozialarbeiter spielen mit ihren Tablets, Ärzten und Essenspaketen. Da draußen konnten sie ihr perfektes Nazi-Universum organisieren, wie sie wollten. Hier drinnen schiß er drauf!
Tom saß noch eine ganze Weile auf dem Balkon, döste vor sich hin, die halbvolle Dose zwischen die Knie geklemmt. Die Effizienz der Besetzer hatte etwas Hypnotisches. Sogar ihre Straßenreinigung wienerte sich durch die Straßen. Zwar mit weniger maschinellem Einsatz – aber die Bürgersteige waren hinterher so sauber wie seit Ewigkeiten nicht. Dagegen konnte die städtische Verwaltung einpacken.
Und auch Tom mußte irgendwann einpacken. Den Aufbau des »Neuen Deutschland« zu beobachten, reichte nicht, ihn über den Tag zu bringen. Da mußte dann eben seine Spielfilm-Festplatte einspringen.
Am vierten Tag begann Tom, mit sich selbst zu reden. Es war ein schleichender Prozess, wie der Verfall der Stadt. Das Badezimmer wurde seine Bühne, der Spiegel sein Publikum.
Zuerst murmelte er bloß ein paar Flüche, während er sich mit kaltem Wasser wusch, aber dann wurde es zu einem echten Dialog mit seinem Spiegelbild. »Weißt du«, sagte er zu der müden, unrasierten Fratze, die ihn anstarrte, »vielleicht ist das alles nur ein ausgefuchster Scherz. Eine riesige Inszenierung, so wie damals bei Krieg der Welten.«
Er spritzte sich Wasser ins Gesicht und begann sich das Gesicht mit Rasierschaum einzupinseln. »Gleich kommt Ashton Kutcher um die Ecke und ruft: ‘Du wurdest geprankt!’ Wir haben dein Internet gefälscht, und deine Glotze auch! Alles Schauspieler auf den Straßen!« Sein Spiegelbild grinste ihn dümmlich an, ein widerlicher Klon mit den gleichen müden Augen. Tom seufzte. »Ja, ich weiß. Schwacher Witz.«
Tom setzte den Naßrasierer an. Keine einfache Aufgabe mit dieser Unruhe, die ihm täglich mehr zusetze. »Oder«, philosophierte er weiter, während der Rasierer über seine stoppelige Haut kratzte, »vielleicht haben die Rechten und die Islamisten sich ja zusammengetan. Wär’ doch lustig. Gemeinsam gegen den Rest der Welt.«
Er schnitt sich, ein roter Tropfen rann über sein Kinn. »Scheiße!« Er lachte, ein kratziges, rostiges Geräusch, das ihn selbst erschreckte. Der Klang seiner eigenen Stimme war ihm zuwider. Den Rest der Rasur beendete er schweigend.
Wieder verbrachte er einige Stunden auf dem Balkon, aber das Programm begann ihn allmählich zu langweilen. Im Osten nichts neues.
Die braunen Sozial-Schleimscheißer tauchten auch wieder auf, diesmal um 9:07, verschwanden aber nach einer halben Minute wieder, als er nicht antwortete. Hatten wahrscheinlich Besseres zu tun, als einem alten Sack wie ihm auf die Nerven zu gehen. Tom war’s recht. Und immerhin waren sie keine stumpfen Schläger aus dem Fascho-Bilderbuch, sondern Bürokraten mit Gewehren. Oder Überzeugungstäter mit sozialer Agenda. Ein schmutziger Gedanke, den er wegzuschieben versuchte.
Seine Vorräte schwanden, und er mußte das Saufen einschränken. Morgens ein Bier zum Frühstück, abends einen Schluck Schnaps, mehr war nicht drin. Er fühlte sich seltsam nüchtern, schmerzhaft klar im Kopf.
An Nachmittag, als Tom müde und apathisch auf dem Sofa lag, klingelte plötzlich sein Handy. Der Sound riß ihn aus seiner Lethargie, ließ ihn zusammenzucken. Die Realität hatte ihn eingeholt. Er hatte vergessen, daß er so ein Ding besaß. Wen hätte er auch anrufen sollen?
Vorsichtig nahm er ab. »Hallo?«, fragte er zögernd. »Sandra?«
Nur Rauschen und Knistern in der Leitung. Tom hielt den Atem an, aber da kam nichts. Er legte auf, ließ das Handy sinken. Fehlfunktion. Eine böse Erinnerung an eine Welt, die ihm nichts mehr mitzuteilen hatte.
Was war wohl aus Gesine geworden? Hatte sie es aus Hellersdorf hinausgeschafft? Oder saß sie in ihrer Wohnung, mit leeren Flaschen und der Angst als ständigem Begleiter, genau wie er? Tom starrte an die Decke, als könnte sie ihm eine Antwort geben, aber da war nur Stille.
Abends kreiste ein Hubschrauber über dem Viertel, der Suchscheinwerfer tastete die Fassaden ab wie ein neugieriger Finger. Tom duckte sich instinktiv, der Lichtstrahl glitt über seinen Balkon, enthüllte für einen Moment die leeren Flaschen, die Zigarettenkippen, die Reste seiner kleinen Privatapokalpyse.
Der Lärm von Explosionen riß Tom aus dem Schlaf. Nicht die gelegentliche Knallerei irgendwo im Hintergrund - das hier klang nach Krieg. Ein echter Krieg fand vor seiner Haustür statt
Die Morgendämmerung war gerade angebrochen, er sah Mündungfeuer, Flammen, den Schweif von Raketen. Unten bewegten sich Schatten, ihre Umrisse verschwammen in Rauch und Morgendunst.
Sein erster Gedanke: Endlich, die Kavallerie war da! Polizei, Armee, irgendjemand mit echter Feuerkraft, um den Spuk zu beseitigen. Wurde Zeit.
Aber etwas stimmte nicht. Die Angreifer bewegten sich nicht wie geschulte Truppen - ohne taktische Formation, nur rohe Wut trieb sie vorwärts. Und dann diese Fahnen, die immer wieder im Scheinwerferlicht auftauchten … Grün. Schwarz. Türkische Halbmonde. Toms Hals wurde trocken.
Die »Söhne des Propheten« waren gekommen, um ihre Rechnung zu begleichen. Rache für ihre aus Marzahn vertriebenen Brüder und Schwestern. Die aus Hellersdorf Vertriebenen kehrten mit Verstärkung zurück.
Ein Molotowcocktail explodierte auf der Straße. Die Flammen züngelten hoch, aber die Uniformierten waren offenbar auch darauf vorbereitet. Ein Löschfahrzeug tauchte auf wie aus dem Nichts und erstickte das Feuer. Nichts wurde dem Zufall überlassen.
Tom lehnte sich über die Balkonbrüstung. Von hier oben sah es surreal aus - der Kampf hatte etwas Irrwitziges, als würde eine unsichtbare Hand die Figuren auf dem Brett bewegen. Die »Söhne des Propheten« drängten wild nach vorne, aggressive Energie, rohe Gewalt. Aber die Verteidiger - die tickten anders. Das Schauspiel, das sie auf den Straßen aufführten, hatte sie anscheinend wieder und wieder in ihren Wehrsportgruppen trainiert, sie waren professionell vorbereitet.
Rückzug hier, Gegenangriff dort. Immer in kleinen, koordinierten Gruppen. Wenn einer zurückwich, war sofort ein anderer da, um die Lücke zu schließen. Sie verschwendeten keine Munition, keine Bewegung war zufällig.
Faszinierend, dachte Tom und nahm einen Schluck aus seiner Flasche. Fast schön, wenn man die Gewalt ausblendete. Wie sie die Angreifer allmählich einschnürten. Wie sie Zivilisten in Sicherheit bracht, die so leichtsinnig waren, sich neugierig auf die Straße zu trauen - selbst jetzt, mitten im Gefecht. Eine Hand am Abzug, die andere ausgestreckt zur Hilfe.
Er ertappte sich dabei, wie er innerlich Partei ergriff. Klar, es waren Nazis. Aber sie beschützten sein Viertel. Seine Nachbarn. Ihn. Taten mehr als die Stadt je getan hatte.
Die Entscheidung fiel an der Hauptkreuzung. Die Angreifer waren in eine perfekt vorbereitete Position gelockt worden. Plötzlich tauchten überall Uniformen auf - aus Hauseinfahrten, von Dächern, aus Seitenstraßen. Ein koordinierter Zangenangriff.
Die schwarzen Fahnen verschwanden eine nach der anderen, zogen sich zurück. Die grünen folgten. Was als wütender Angriff begann, endete in überstürztem Rückzug. Keine heroische letzte Schlacht - nur das Tabula Rasa durch eine überlegene Kraft. Wieder mal.
Er stellte sich vor, sie wären stattdessen durchgebrochen. Hätten seine Etage erreicht, sein Heiligtum. Seine Tür aufgebrochen, die Wohnung zertrümmert. Gestern noch hatte er den Kontrollwahn der Natis verspottet und gefürchtet. Jetzt wirkten ihre Uniformen wie Erlösung.
Keine zehn Minuten später waren die Aufräumarbeiten in vollem Gange. Die Barrikaden verschwanden so blitzschnell, wie sie errichtet worden waren, Sanitäter versorgten Verwundete. Die mobilen Küchen fuhren wieder vor, als wäre nichts gewesen.
Tom leerte das Glas Wasser in einem Zug. Seine Hand zitterte leicht. Er hatte gerade zugesehen, wie Nazis sein Viertel verteidigten. Und ja, sie hatten es gut gemacht. Kompetent. Fast … beruhigend.
Diese Gedanken beschäftigten ihn die nächsten Stunden.
Gegen elf standen sie wieder an seiner Tür und klingelten. Ok, deutlich später als sonst, aber sie hätte eine gute Entschuldigung nennen können – wer er danach gefragt hätte!
»Herr Keller? Wir wollten nach Ihnen sehen nach den unangenehmen Ereignissen heute früh. Sichergehen, daß es Ihnen gut geht.«
Tom stand an der Tür, die Hand schwebte über dem Griff. Heute fühlte es sich anders an. Die Wut war weg.
»Wir haben Ihr Zuhause beschützt, Herr Keller. Ihre Heimat, ihre Nachbarn. Das ist alles, was wir wollen - beschützen, was uns gehört. Nicht nur vor diesen Angreifern. Vor allen, die uns unsere Freiheit nehmen wollen.«
Freiheit. Ein Wort, das etwas in ihm auslöste. Wann hatte er sich zuletzt frei gefühlt? In dieser Burg, die er gegen die Welt errichtet hatte? Was für ein Witz. Er hatte sein eigenes Gefängnis gebaut, nannte es Kontrolle, nannte es Frieden. Aber Frieden wovor? Vorm Leben?
»Wir sind Deutsche wie Sie«, fuhr die Stimme hinter der Tür fort. »Wir müssen zusammenstehen. Aber wir werden Sie zu nichts zwingen.«
Tom lehnte sich gegen die Wand. »Muß darüber nachdenken«, sagte er leise.
»Natürlich. Lassen Sie sich Zeit. Wir sind da, sobald Sie bereit sind.«
Schritte entfernten sich. Tom rutschte zu Boden, saß dort eine Weile mit dem Rücken zur Tür.
Sein Blick wanderte durch die Wohnung. Bücher, die er hundertmal gelesen hatte. Platten, deren Texte er auswendig kannte. Alles an seinem Platz.
Sandra würde lachen, wenn sie ihn sähe. »Läufst wieder weg, Papa?« Das hatte sie beim letzten Mal gesagt. Vor drei Jahren? Vier?
Sie hatte Recht gehabt. Er war immer weggelaufen. Vor Verantwortung. Vor Bindung. Hatte Mauern aus Regeln und Routine gebaut. Nannte es Unabhängigkeit.
Aber Unabhängigkeit war keine Freiheit. Die neuen Machthaber - organisiert, effizient, präzise - sie boten etwas anderes. Gemeinschaft. Sinn. Eine Chance, von Bedeutung zu sein.
Er stand und wandte den Blick zur Tür. Morgen würden sie wieder klingeln. Gleiche Zeit, gleiches Angebot. Seine Hand könnte zugreifen, den Schlüssel drehen, die Klinke drücken. Teil von etwas Größerem werden.
Der Gedanke jagte ihm Angst ein. Zog ihn zugleich an, wie der Blick in einen Abgrund, der Antworten versprach.
Seine Finger zogen Muster auf die Tür. Ordnung und Chaos. Kontrolle und Freiheit. Was hatte ihm die Isolation gebracht? Seine perfekte Ausrichtung toter Objekte, die geometrische Präzision im Vakuum. Während draußen das Leben pulsierte. Chaotisch, gewalttätig, real.
Morgen. Dann würde er sich entscheiden. Ob er sich weiter einschließen würde in sein Museum der Erinnerungen - oder ob er wieder ins Ungewisse hinaustreten wollte.
Am nächsten Morgen klingelte es, um Punkt neun. Sie waren wieder in ihrem alten Zeitplan.
»Herr Keller? Wir wissen, Sie öffnen nicht, aber bitte lesen Sie das hier.«
Ein Papier wurde unter seiner Tür hindurchgeschoben. Große Buchstaben: »AUFRUF ZUM REFERENDUM.« Darunter: »Unabhängigkeit für ‘Neues Deutschland’.«
Tom hob es auf. Das Manifest war ein Meisterstück der Propaganda:
»Deutsche Mitbürger! Die Zeit ist gekommen, unsere Heimat zurückzufordern. Zu lange haben fremde Interessen unser Leben bestimmt. Durch dieses demokratische Referendum können wir wahre Selbstverwaltung erlangen.
‘Neues Deutschland’. das heißt:
Freiheit statt Diktatur der Blockparteien
Unabhängigkeit statt EU-Bürokratie
Heimat statt Mulikulturalität
Schutz vor dem Bevölkerungsaustausch
Regiert von und für das Volk
Zur Bewahrung unserer Kultur und Werte verpflichtet
Stimmen Sie mit JA für Unabhängigkeit. JA für Ordnung. JA für Freiheit.
Unsere Heimat – alles für Deutschland!«
»Wir kommen um elf wieder, Herr Keller«, sagte die Stimme. »Wenn Sie möchten, begleiten wir Sie zum Wahllokal. Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie sich entscheiden, dabei zu sein.«
Dann waren sie wieder weg.
Tom starrte auf sein verzerrtes Spiegelbild auf der leeren Flasche. Der letzten, die er gestern getrunken hatte.
Dachte an Gesine, von der er seit jener Nacht nichts mehr gehört hatte. Den Hausmeisterjob, den er verloren hatte. An all die nervtötenden Tage und Stunde auf dem Balkon, in er die Umwälzungen begafft hatte wie eine schlecht geschriebene Netflix-Serie.
Und jetzt? Jetzt bot ihm jemand eine Rolle an. Keine Hauptrolle, klar. Aber wenigstens eine Statistenrolle in einem größeren Stück. In dem erTeil von etwas sein konnte, das funktionierte. Das VERDAMMT GUT funktionierte.
Tom starrte seine Wände an. All die Jahre hatte er dieses ‘Zuhause’ gebaut. Aber ein Zuhause brauchte Leben. Seines enthielt nur Echos - von Sandras Lachen, von verpaßten Chancen, von der Stadt, die er ausgesperrt hatte, bis sie mit Springerstiefeln anklopfte.
Das »Heim«, das er sich geschaffen hatte, war eine Lüge, ein einziger Selbstbetrug. »Heimat« konnte es nur zusammen mit anderen geben. Und trotzdem: Scheiß auf Deutschland!
Seine Vorräte gingen zur Neige. Das Bier war alle, der Schnaps auch, kein Brot mehr. Nur noch eine Packung Nudeln und ein paar Dosen. Der Kühlschrank würde sich auch nicht auf magische Weise wieder füllen.
Die Sonne stieg höher über Marzahn-Hellersdorf. Der Balkon zeigte das übliche Morgenprogramm: Patrouillen, Versorgungsstationen, Menschenschlangen. Das Leben ging weiter unter neuer Führung.
Elf Uhr rückte näher. Sie würden eine Antwort wollen. Er konnte Teil werden ihrer Verwaltung des Wahnsinns, ihrer Rettung des Viertels. Die Einzigen, denen dieses Forunkel am Arsch der Welt noch etwas bedeutete. Warum sie das taten, wußte er nicht. Wie sollte er es auch herausfinden?
Er dachte an seinen Balkon. Seinen privaten Kinosessel mit Blick auf den Untergang. Wie lange wollte er noch dort oben sitzen? Wie lange wollte er noch zusehen?
Die Türklingel läutete.
Tom ging zur Tür, stand einen Moment davor. Seine Hand schwebte über dem Schlüssel, der immer noch steckte. Einen halben Meter entfern wartete die einzige Ordnung, die in einer aus den Fugen geratenen Welt übrig war. Als idiotische Antwort auf den Wahnsinn.
Das Klingeln wiederholte sich. Geduldig. Sie wußten, daß er da war. Sie hatten es die ganze Zeit gewußt.
Tom atmete tief durch. Seine Hand zitterte nicht, als er den Schlüssel zweimal drehte.
Dann öffnete er die Tür.

