Invasoren
An der Heimatfront
In meiner Vorstellung schien es recht simpel, das Saufen zu lernen: Drei Flaschen Bier kaufen, die Pullen zuhause auf den Wohnzimmertisch, dann ein stummes Gespräch zwischen ihnen und mir. Eine Beziehung schaffen, eine Grundlage für lebenslange Zuneigung, mir vorstellen, wie großartig es wäre, das Bier in mich hineinzuschütten. Wie lecker!
Vergleichbar mit einer Zwangsheirat, bei der man mit ein bißchen gutem Willen der Liebe eine Chance geben mußte, sodaß sie erblühen konnte. Es half, sie oder ihn nackt zu sehen und auf die Kraft der Natur zu vertrauen. Streicheln, lecken, lüsterne Blicke. Dann – öffnen und rein damit! Den bitteren Geschmack ignorieren – das legte sich im Laufe der Zeit, wie jeder Kenner zu berichten wußte. Einfach weghämmern und die einsetzende Verwirrung genießen! Und täglich weiter üben, Neues ausprobieren, mit Schnaps, Wein und anderen, was die Alkoholregale bevölkerte!
Alles Stuß: Ich mochte ordentlich neben der Spur laufen und nur eine Handbreit von der Klapse entfernt durchs Leben taumeln. Aber ich war nicht verrückt genug, mit 56 Jahren herausfinden zu wollen, wie sich ein Vollrausch anfühlte. Genauso wenig, wie ich mich in die Vergangenheit zurückwünschte oder mein Dasein ernsthaft als »KZ« bezeichnet.
In diesem Moment kümmerte mich nicht, ob professionelle Trinker mir einiges an Lebenserfahrung voraus hatten. Die Opfer von Folter, Massenmord und Lagerhaft gingen mir ebenfalls am Arsch vorbei – es galt herausfinden, wie ich aus der Misere rauskam! Ich mußte mich auf die Gegenwart konzentrieren und durfte meine Zeit nicht mit Saufstudien vergeuden – und auch nicht mit Wühlen im Familiendreck!
Die Fotos lagen immer noch ausgebreitet auf dem Tisch. Zurück damit in die Kiste! Da gehören sie hin! Die 60er sollten kacken gehen, die 70er und 80er gleich mit! Kein Bock auf ein Buch mit dem Titel: »Geschichten für debile Frührentner«!
Und schon war Biff wieder da: »Du fei …«
»HALT’S MAUL!«
»Was hast du gesagt?«, hörte ich Siris Stimme.
»FICK DICH!«
»Ich wünschte, ich könnte mir die Ohren zuhalten.«
»Siri, wie komme ich hier raus?«
»Nach welcher Art Geschäft suchst du?«
Am liebsten hätte ich Siri in diesem Moment erwürgt. Aber sie hatte nicht nur keine Ohren, sondern auch keinen Hals.
Ein letzter Versuch: »Ich muß hier WEG!«
»Wo möchtest du gerne hin?«
»Nach Hause.«
»Ich suche nach der Wegbeschreibung. Ziel: Privatadresse … Ziel erreicht!«
Siri hatte recht. Bleiben, gehen, Hamburg, Wuppertal, Berlin, alles einerlei. Als Freigänger konnte ich den Bunker-Knast jederzeit verlassen, und genau das war das Problem.
Klar, daß mir jeder einen Vogel zeigte, wenn ich das Gespräch darüber suchte. »Du bunkerst dich nur selbst ein«, sagten sie. »Während draußen das pralle Leben wartet!«
Alles, was ich antworten konnte, hätte lächerlich geklungen, also schwieg ich. Gleichzeitig hegte ich den Verdacht, daß es Millionen Gefängnisse wie meines geben mußte. Und die, die mich auslachten, mochten bald selbst in einer Zelle dahinvegetieren oder vom Trommelfeuer in Stücke gerissen werden. Als Opfer der täglichen Angriffe durch Facebook und Konsorten, als Ziele einer Invasion!
Die Stimmen in meinem Kopf bewiesen, daß sich der Feind nicht mehr außerhalb der Grenzen befand. Der Krieg fand längst an der Heimatfront statt, das Schlachtfeld waren unsere Hirne und Herzen. Nicht nur ich, wir alle sollten in den Knast und dort auf Handys und Tablets herumtippen, bis wir vermoderten.
Die Chancen standen schlecht, der Welt um mich herum den Ernst der Lage begreiflich zu machen. Aber so leicht wollte ich mich nicht geschlagen geben. Es mußte ein Weg existieren, die unsichtbaren Mauern zwischen Drinnen und Draußen zu zertrümmern!
Ich zog ein Perry-Rhodan-Heft aus dem Regal. Ein ganz bestimmtes: Ausgabe fünfnullfünf, von William Voltz, aus den frühen 70ern. Das Titelbild zeigt einen Mann, nein, einen bloßen Kopf, gepflanzt auf eine technische Apparatur, in der Gewalt von Robotern. Sie ziehen und zerren an seinem Gesicht, als wäre es Gummi, gleich wird die Haut reißen und Blut sprudelt zwischen den Fleischfetzen empor.
Der Titel des Heftes: GEFANGEN IM SCHWARM! Er ist ein Terraner – und er will kein Sklave sein!
Worte, die mir auf den Leib geschrieben waren. Ein Cover, das mir schon als Teenie Schauer über den Rücken gejagt hatte. Dieser Mann auf dem Titelbild, gefoltert und gequält, das war ich! Es gab gute Gründe, eine Höllenangst vor allem zu haben, was als Nächstes geschehen mochte.
Und jeeeeetzt?
RRRÖÖÖMMMP! Neue Mails. Mußte kurz umschalten. Danach auf jeden Fall wieder ran ans Buch!
Eine Sabine, die ich nicht kannte, schrieb mir: »Das wollte ich schon immer mit jemandem teilen, das ist so aufregend! Wirst du es dir ansehen?«
Beigefügt hatte sie zwei Fotos, auf denen angeblich sie selbst abgebildet war. Dessous, aufreizende Posen, gelöscht.
Der BAUR Versand bot mir ausgewählte T-Shirts um zwanzig Prozent reduziert an. Den Motiven nach zu urteilen, wußten sie rein gar nichts über mich. Weg damit.
Von Berger lag wieder was im Postfach. Betreff: »Ich warte auf deinen Anruf!« Gelöscht, blockiert. Bis zu seiner nächsten Mail, von einer neuen Adresse. Ich mochte ihn tausendmal in den Spamfilter schieben, der ließ nicht locker.
Und dann noch ’ne Mail aus Hannover, vom Staatstheater. Sie wollten die Chaostage auf die Bühne bringen und vermuteten, bei mir an der richtigen Adresse zu sein.
Ich kotz im Strahl! Klasse Staat: Erst prügelte man uns windelweich – um Jahrzehnte später auf Verbrüderung für das passende Kulturevent zu machen! Gab es einen besseren Beweis als diesen, daß Punk ungefährlich geworden war? Von mir ganz zu schweigen.
Sie suchten Kontakt mit einem Zeitzeugen, um zu erfahren, wie wir als subversive Unruhestifter die Welt auf den Kopf gestellt hatten. Ein paar meiner ehemaligen Gefährten waren schon im Boot – ohne mich! Es reichte, daß ich bei der Goldenen Kamera zum Feind übergelaufen war, das mußte ich nicht wiederholen. Erst recht nicht für eine Schauspieltruppe aus dem Staatstheater.
Ich erinnerte mich – Künstlertypen, die auf Provokation machen, hatte ich bereits in einem Song der Scheine verwurstet, geklaut aus einem uralten Asterix-Comic. Da riefen sie von einer römischen Theaterbühne »Orgien! Orgien! Wir wollen Orgien!« ins Publikum … und dann hatte Obelix … RRRÖÖÖMMMP! Auf dem iPhone poppte eine Erinnerung auf: »AUSSENWELT-ALARM! SOFORTIGE FRONTBEGRADIGUNG!«.
Na gut. Schluß mit Cotzbrocken, ich zog die erste LP von Blut + Eisen aus dem Regal.
Als sich die Scheibe auf dem Plattenteller zu drehen begann, schob ich die Lautstärkeregler auf Vollbrett und ließ den Tonarm sinken. »SCHREI DOCH!«, brach der erste Song los. Dann marschierte ich mit martialischem Kriegsgeschrei an die Front. Hörte aber eh keiner, weil der musikalische Blitzkrieg alles übertönte und niemand außer mir im Haus war. Ausgespuckt von überall verteilten WLAN-Boxen, dröhnte der Sound durch den gesamten Bunker.
Wie laut muß man eigentlich Musik hören, um an nichts mehr zu denken?
Der Fliegenschwarm rund um den Mülleimer hatte in den letzten Tagen den Charakter einer Invasion angenommen. Die winzigen Biester waren überall, Töpfe und Teller mit Essensresten ihr Lebensraum. Sie fühlten sich ganz wohl bei mir, sogar im Winter, wenn ihre großen Verwandten Pause machten. Oder es war eine neue Spezies, gezüchtet in meiner Küche.
»Tut mir leid, Kinners, aber die Party ist vorbei. Verpißt euch!«, brüllte ich gegen den Lärmteppich an und begann mit der Vernichtung des Lebensraums der Fliegenkolonie. Ich öffnete die Balkontür bis zum Anschlag, das Ziel die Endlösung der Fliegenfrage durch winterliche Frischluft. »Lange Gesichter, lang wie ’ne Banane …«, sang ich zur Musik. Dann zog ich den Müllsack aus dem Eimer, band ihn zu und verließ mit dem Fliegengefängnis die Wohnung, zwecks Deportation in den neben dem Haus gelegenen Müllcontainer. Dort würde das Geschmeiß jämmerlich ersticken. Lebensunwertes Leben, das vernichtet werden mußte!
Ich bin wie Hitler – ich weiß noch, wie mir dieser Satz durch den Kopf schoß. Ich konnte es nicht lassen. Und weil ich eine schlimme Kindheit hatte, würden jetzt eben die Fliegen dran glauben. Was blieb mir anderes, als nach unten zu treten?
Eventuell war es auch ein Krieg auf gleichem Level: Untermensch gegen Ungeziefer! Meine erste Punk-Jacke trug den Schriftzug »Ich bin ein Untermensch«, womit ich mich schon vor 35 Jahren auf das Niveau von Ratten und Schmeißfliegen begeben hatte.
Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder der Küche zu. Unter heißem Wasser das Gröbste vom Geschirr abspülen, den Glastisch freiräumen und abwischen, fegen, die Bücherkiste auf den Tisch, fertig!
Ok, darunter litt das Punk-Flair gewaltig, ging aber im richtigen Leben zeitweise nicht anders. Vor allem, wenn man Leute in die Bude reinlassen mußte, um ihnen was zu verkaufen. Der Kapitalismus machte eben auch vor Fliegen und Dreck nicht halt.
Besonders an einem Tag wie diesem: Für zehn hatte sich Besuch angekündigt, ein Unbekannter wollte eine Kiste Perry-Rhodan-Doubletten bei mir einsacken. Nicht die Hefte, sondern Taschenbücher, genannt Planetenromane – ich hatte sie via eBay-Kleinanzeigen angeboten, und mein Besucher war ein potenzieller Käufer!
Ich hatte so meine Erfahrungen mit Perry-Rhodan-Lesern gemacht. Ein merkwürdiges Volk, man mußte mit allem rechnen. Und natürlich wollte ich nicht, daß mein Kunde angesichts des wuchernden Chaos umgehend die Flucht ergriff.
Mittlerweile war die erste Plattenseite durch; ich drehte sie um, weiter ging’s mit dem nächsten Song und meinen Anstrengungen, den Bunker ein wenig aufzuhübschen. »Sehnsucht, solche Sehnsucht nach dir, Sehnsucht in meinem Häääääärzen!«, sang ich lauthals mit; Blut + Eisen gab die Richtung vor.
Mein Besuch konnte kommen. Der Botschafter der Außenwelt.
Als es kurz nach zehn klingelte und ich die Tür öffnete, erblickte ich einen Mann in ungefähr meinem Alter.
»Ich bin Uwe«, sagte er. Sein Äußeres vermittelte den Eindruck, als habe ihn seine Mutter eingekleidet; er trug einen Wintermantel zu Cordhose und gemustertem Wollpulli, auf der Nase eine altmodische Nickelbrille im Piloten-Style. Über allem thronte ein dunkelblonder Seitenscheitel. »Wir hatten telefoniert.«
Uwes Gesicht glich einem Panzer aus rosa Marzipan. Es sagte: »Ich habe noch nie eine Muschi von innen gefühlt, und das ist gut so!«
Ich erkannte mein verzerrtes Spiegelbild in diesem Gast aus einer Parallelwelt, in der sich mein alternatives Ich 1981 gegen Gefahr und Abenteuer entschieden – und für ein Leben in Perry Rhodan, der größten Science-Fiction-Serie der Welt.
In der Realität, auf dieser Seite des Spiegels, waren die Dinge anders gelaufen. Während in meiner Lieblingsserie positronisch-biologische Roboter – kurz »Posbis« genannt – Das Wahre Leben irgendwo im Weltall suchten, wollte ich es auf der Straße finden.
Es war ein Ausbruch, wie er im Buche stand. Da mußten die Heftchen samt Posbis erst mal pausieren.
In der nächsten Folge gibt es wieder eine Reise in die Vergangenheit. In AUSBRUCH '81 erfahren wir, wie aus einem biederen Industriekaufmann ein lederjackentragender Punk wurde!
Schon bald in dieser Schundhöhle.