Nr. 687

Fratzenschau

Die digitale Selbstzerfleischung

Dieser Text richtet sich an Dich. An Typen, die ihr Leben damit vergeuden, selbiges bei »Sozialen Medien« unter die Leute zu bringen, wie ein adipöser Metzger ein Stück Fleisch nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums.

Du denkst, du bist besonders? Einzigartig? Ein Original unter Kopien? ICH LACH MICH TOT! Gib’s zu: Du bist längstzum gottverdammten Avatar mutiert! Zur wandelnden Marke. Ein digitales Gespenst, das in der körperlosen Hölle der Aufmerksamkeitsgeilheit herumspukt.

Mach den Test: Schalte dein Smartphone aus, kapp deinen Internet-Anschluß! Nicht für eine Stunde. Nicht für einen Tag. Für einen Monat. EINEN VERFICKTEN MONAT!

Spürst du’s schon? Die Panik, die allein bei dem Gedanken durch deine Synapsen rauscht wie ein Speedfreak auf der Flucht vor den Bullen?

Natürlich tust du das. Weil du, genau wie ein stetig größer werdender Teil der traurigen Menschheit, SÜCHTIG bist. Nicht nach den hübschen bunten Bildern, nicht nach Informationen – sondern nach dem erbärmlichen Gefühl, GESEHEN zu werden. Wahrgenommen zu werden. Zu existieren. Das moderne Cogito: Ich werde geliket, ich habe Follower, also bin ich.

»Ich bin kein Selbstdarsteller«, erzählst du empört deinem ständigen Begleiter - dem besagten Smartphone! - , während du zum x-Mal deinen eigenen Namen googlest. »Ich teile nur mein Leben mit Freunden.«

Freunden? FREUNDEN? Seit wann sind 647 Menschen, die deinen Schwachsinn mit einem Daumen nach oben bewerten, deine »Freunde«? Diese digitalen Schatten, die dir den nächsten Dopamin-Hit verschaffen, sind keine Freunde – sie sind die willigen Helfershelfer deiner Dealer.

DIE DEMOKRATISIERUNG DER SELBSTVERSTÜMMELUNG

Früher war Narzißmus eine elitäre Störung. Reserviert für Künstler, Filmstars und andere professionelle Egomanen. Heute? Ein Massenphänomen. Ein gesellschaftliches MUSS. Die Demokratisierung der Eitelkeit als endgültiger Sieg des Kapitalismus: Jeder ein Produkt, jeder ein Vermarkter, jeder ein verzweifelter Schauspieler im Theater der eigenen Bedeutungslosigkeit.

Denken wir kurz zurück, als die Dinge noch anders waren. Meine Fresse, ich klinge wie die Typen früher, die ich gehaßt habe - die Greise, die vom Krieg erzählten - dabei rede ich von einer Zeit, die gerade mal zwanzig Jahre zurückliegt! Der Welt des Jahres 2005. Als man noch verschwinden konnte. Als es noch dunkle Ecken gab, in die kein Licht fiel. Als man noch die Wahl hatte, ob man gesehen werden wollte.

»Glotzt mich nicht an!« brüllte der Punk auf der Straße, während sein ganzes Äußeres schrie: »GLOTZT MICH AN! ALLE!«

Aber es gab einen fundamentalen Unterschied: Die Maske konnte fallen, wenn die Tür sich schloß. Die Performance hatte ein Ende. Das Licht ging aus, der Vorhang fiel, und man war wieder ein anonymer Niemand in der Dunkelheit des eigenen Zimmers.

Diesen Luxus haben wir geopfert. Auf dem Altar der ständigen Konnektivität. Wir sind zu wandelnden Überwachungskameras mutiert, die permanent auf uns selbst gerichtet sind. Jede Geste, jeder Gedanke, jedes Gefühl wird nicht mehr erlebt, sondern durch das Prisma seiner Darstellbarkeit gefiltert.

Die Frage ist nicht mehr: »Wie fühlt sich dieser Moment an?«, sondern: »Wie wird dieser Moment aussehen, wenn ich ihn poste?«

Das perfekte Essen existiert als Bildfenster deiner Instagram-Story. Der Sonnenuntergang existiert als vorübergehende Kulisse deiner belanglosen Existenz. Das Buch in deiner Hand ist intellektuelles Accessoire für dein verbreitetes Selbstbild.

Früher war Narzißmus eine Störung. Heute ist es die Grundvoraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Der ultimative Sieg des Kapitalismus: Jeder ein Produkt, jeder ein Marketingdirektor, jeder eine wandelnde Werbefläche für sich selbst.

Selbst die Verweigerung ist nur eine weitere Performance. »Ich bin nicht auf Instagram« ist das neue »Ich habe keinen Fernseher« – ein verzweifelter Versuch, sich vom Mainstream abzuheben, während man einfach nur eine andere Sorte Wichser ist.

DIE NEKROPHILIE DER ERFAHRUNG

Wir töten jede Erfahrung, um sie sofort zu mumifizieren. Wir sind zu Leichenbestattern unserer eigenen Momente geworden.

Das Konzert durch das Smartphone gefilmt, statt es zu erleben. Die Geburt des Kindes mit einem Auge gesehen, mit dem anderen auf dem Kamerabildschirm. Der Tod eines geliebten Menschen sofort zum »Leidensweg« umfunktioniert, den man in achtteiligen Video-Posts dokumentiert. Ein Unfall wird gefilmt, statt zu helfen. Eine Beziehung wird öffentlich seziert, statt sie zu leben. Eine Krankheit wird zur »Reise«, eine Trauer zum »Awareness-Projekt«, eine Trennung zum »Reifeprozeß«.

Weißt du noch, wie es war, etwas zu erleben, ohne es zu dokumentieren? Etwas zu FÜHLEN, ohne es sofort in die zweidimensionale Müllhalde der sozialen Medien zu kippen? Natürlich nicht. Diese Erinnerung wurde bereits überschrieben, formatiert, gelöscht.

Die Grenzen des Privaten existieren nicht mehr. Alles ist Content. Alles ist Rohmaterial für die unersättliche Maschinerie der Selbstvermarktung. Sogar die Kritik an der Selbstvermarktung – wie dieser Text – wird sofort wieder zu Content recycelt. Getötet.

Wenn bei einem Waldbrand niemand postet, hat er dann wirklich stattgefunden?

DER GROSSE AUTHENTIZITÄTSBESCHISS

Das Obszönste an der ganzen Scheiße ist die vorgetäuschte Authentizität. Die Selbstdarsteller früherer Generationen – die Filmstars, die Rockmusiker, die Politiker – waren wenigstens ehrlich in ihrer Eitelkeit. Sie sagten: »Schaut her, ich bin besonders!«

Heute? »Schaut her, wie NORMAL ich bin! #nofilter #authentic #justme #nomakeup«

Je verzweifelter wir unsere »Echtheit« beweisen wollen, desto künstlicher werden wir. Eine Armee von digitalen Pinocchios, die verzweifelt schreien: »Ich bin ein echter Junge!«, während ihre Nasen mit jedem Post länger werden.

Die sogenannten »Content Creator« – was für ein widerlicher Euphemismus für Menschen, die ihr Leben zu einer Dauerwerbesendung reduziert haben. Sie verkaufen nicht nur Produkte. Sie verkaufen die Illusion von Nähe, von Freundschaft, von Bedeutung. Der perfekte Schnitt zwischen Prostitution und Predigt.

DIE PERMANENTE MASKERADE

»Sei du selbst« brüllen die Motivations-Gurus, während sie dir gleichzeitig beibringen, wie du dich am besten verkaufst. Die ultimative Schizophrenie unserer Zeit: Authentisch sein ist ein Performanceakt geworden.

Jeder deiner Gedanken wird durch den Filter der Darstellbarkeit gejagt. Ist dieser Witz zu kontrovers? Könnte diese Meinung meiner Marke schaden? Paßt dieses Gefühl zu meiner Online-Persona?

Wir haben nicht nur Masken aufgesetzt – wir SIND die Masken geworden. Die Grenze zwischen Performance und Person existiert nicht mehr. Wie ein Schauspieler, der seine Rolle so lange gespielt hat, daß er vergessen hat, wer er wirklich ist.

 

DIE WÄHRUNG DER AUFMERKSAMKEIT

In einer Ökonomie, in der Aufmerksamkeit die Währung ist, bedeutet Unsichtbarkeit Armut. Soziale Medien haben ein feudales System geschaffen, in dem die Aufmerksamkeitsreichen immer reicher werden und die Aufmerksamkeitsarmen verhungern.

Die Algorithmen – diese gefühllosen Parasiten – laben sich an deiner Sehnsucht, gesehen zu werden. Sie haben uns alle zu Laborratten gemacht, die verzweifelt auf den Hebel drücken, um die nächste Dosis Dopamin zu bekommen.

Wir sind nicht die Nutzer der sozialen Medien – wir sind die Produkte. Unsere Angst, unsere Unsicherheit, unsere primitive Sehnsucht nach Bestätigung wird abgeschöpft und zu Geld gemacht, während wir uns in digitalen Arenen gegenseitig zerfleischen.

 

EXISTENZ ALS WETTBEWERB

Jeder Moment deines Lebens ist jetzt ein Wettbewerb. Dein Frühstück gegen das Frühstück von Millionen anderen. Dein Sonnenuntergang gegen Millionen andere Sonnenuntergänge. Deine Trauer gegen Millionen andere Trauergeschichten.

Wir leben nicht mehr – wir performen für eine unsichtbare Jury, die ständig Noten verteilt. Likes. Shares. Follower. Die neuen Maßeinheiten menschlichen Werts.

Und das Perverseste: Selbst wenn du gewinnst, verlierst du. Das perfekte Urlaubsfoto bringt vielleicht tausend Likes – aber was bleibt dir vom eigentlichen Urlaub? Eine verschwommene Erinnerung an einen Moment, den du nicht wirklich erlebt hast, weil du zu beschäftigt warst, ihn zu inszenieren.

 

DIE FLUCHT NACH VORNE

Du denkst, das alles trifft auf dich nicht zu? Daß du über diesen armseligen Mechanismen stehst? Beweise es. Lösche deine Accounts. Alle. Jetzt. Wirf dein Smartphone in den nächsten Fluß. Befreie dich von der ständigen Selbstbeobachtung.

Kannst du nicht, oder? Natürlich nicht. Weil die wahre Hölle nicht die Selbstdarstellung ist – sondern die Angst, nicht mehr gesehen zu werden. In einer Welt, in der Aufmerksamkeit zur Währung geworden ist, bedeutet Unsichtbarkeit sozialen Tod.

Das ist der eigentliche Horror unserer Zeit: Wir haben keine Wahl mehr. Sich zu verweigern ist auch eine Form der Performance. Der digitale Aussteiger, der »bewußt offline lebt«, ist nur eine weitere Rolle im gleichen Stück. Eine weitere Maske, die wir uns aufsetzen, um unsere Einzigartigkeit zu behaupten.

Der Ausstieg ist keine Option mehr. Die digitale Persona ist längst mit der menschlichen verschmolzen. Der Versuch, »offline zu gehen«, ist wie der Versuch, deinen eigenen Schatten loszuwerden – ein weiterer Akt in der endlosen Performance.

Die einzige Möglichkeit ist die Bewußtwerdung. Die Akzeptanz der Tatsache, daß wir alle zu Darstellern in einer grotesken Reality-Show geworden sind. Daß es kein »authentisches Ich« mehr gibt, das gerettet werden könnte – nur verschiedene Varianten der Performance.

Ich schreibe diese Zeilen und weiß, daß auch sie Teil des Problems sind. Daß ich selbst gefangen bin in der gleichen Falle, die ich beschreibe. Der Kritiker der Aufmerksamkeitsökonomie braucht selbst Aufmerksamkeit, um gehört zu werden – das ultimative Paradox.

 

DIE WAHRHEIT HINTER DER FRATZE

Und jetzt, nachdem du diesen Text gelesen hast - wirst du ihn teilen, auf den asozialen Medien deiner Wahl? Auf Facebook? Auf X, Reddit, Threads, Bluesky, egal? Wirst du ihn markieren mit #Gesellschaftskritik oder #TieferBlick oder irgendeinem anderen bedeutungslosen Hashtag, der dich glauben läßt, über dem System zu stehen, das du gleichzeitig fütterst?

Natürlich wirst du das. Natürlich werde ich die Shares und Likes zählen. Wir sind beide gefangen in der gleichen kranken Dynamik, beide Junkies der gleichen Droge.

Die wahre Hölle ist nicht die Selbstdarstellung – es ist das Bewußtsein der Selbstdarstellung bei gleichzeitiger Unfähigkeit, ihr zu entkommen. Die Hölle sind immer die Anderen.

Willkommen im Endstadium der Aufmerksamkeitsökonomie. Es gibt keinen Ausgang. Nur bessere oder schlechtere Plätze im Theater des Absurden.

Und jetzt verbreite diesen Text, du Wichser. Ich weiß, daß du es tun wirst.

FÜR DIE GANZE FAMILIE
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