Schöner Scheitern
1969: Ein Blick durchs Butterbrotpapier
Los geht’s mit der Forschungsreise! Ich werde herausfinden, warum aus mir kein Comiczeichner und auch kein Perry-Rhodan-Illustrator wurde!
Noch in der Grundschule hielt ich mich für einen recht guten Zeichner. Im Gegensatz zu meinen Mitschülern hatte ich verstanden, daß ein Baum sich von unten nach oben verjüngte und verästelte - die anderen malten eher eine Art braune Säule mit drangeklebten Ästen und Blättern.
Eines Tages - ich war acht oder neun Jahre alt - entdeckte ich, daß das Butterbrotpapier meiner Mutter wie geschaffen war, Titelbilder und Panels meiner Fix-und-Foxi-Hefte durchzuzeichnen oder gar zwei zu einer Eigenkreation zu verschmelzen. Sie schleppte tonnenweise Butterbrotpapier nach Hause, bis sie merkte, wie dieser unerklärliche Schwund zustandekam.
»Ist ja nur durchgepaust. Wenn du Talent hättest, würdest du das aus dem Kopf zeichnen. Freihändig!«, kommentierte unser Nachbar Herr Wienekamp meine Comic-Butterbrotpapiersammlung. Der wohnte nebst Familie eine Etage unter uns, und dort hatte ich zuvor seinem Sohn stolz mein künstlerisches Schaffen von Monaten präsentiert. Bis der Vater ins Kinderzimmer kam und die Dinge geraderückte. Danach fühlte ich mich noch kleiner als ohnehin.
Weil das mit dem freihändigen Zeichnen in den folgenden Wochen beim besten Willen nicht klappen wollte, ließ ich es bleiben. Ich hatte eben kein Talent für sowas.
Herr Wienekamp hingegen hatte großes Talent darin, auf meinen Träumen herumzutrampeln.
Einige Jahre später etwa begegnete mir die größte Spinne meines Lebens im Keller des heimatlichen Wohnklotzes. Sie hockte an der Wand, hatte dicke, behaarte Beine und war bestimmt handtellergroß. Mindestens! Ich benachrichtigte Herrn Wienekamp, der als inoffizieller Hausmeister fungierte, und der zertrat die Riesenspinne, ohne lange zu fackeln.
Die arme Spinne! Warum hatte er sie nicht für mich gefangen, ich hätte sie anschließend mit geheimen Tinkturen zu einem menschenfressenden Monster heranwachsen lassen! Mit sowas kannte ich mich mittlerweile bestens aus - ich hatte im Kino diverse Godzilla-Filme gesehen, und auch Frankenstein (die Reihe mit Boris Karloff) hatte mich ordentlich ins Schlottern gebracht.
Ich verstand, daß auch ohne Talent KAPUTTMACHEN eine akzeptable Alternative war. Wieder mußte das Butterbrotpapier meiner Mutter herhalten. Nee, ich pauste keine Comics mehr durch - jetzt ging es an die FRONT! Nicht länger Adolf (über den hatte ich mir eine gewisse Fachkenntnis angelesen), sondern ICH war nun der Führer und erstellte genaue Karten und Pläne zur Unterwerfung aller Feinde! Unzählige Male eroberte ich die Welt, dank meiner strategischen Fähigkeiten kein Problem. Wie aufregend!
Unmengen Revell-Soldaten und Plastikpanzer wurden in die Schlacht geworfen - dann Kampf um Kampf gewonnen, meine Panzer auf einem endlosen Siegeszug! Und mein Führerhauptquartier lag im Keller, Pläne, Waffen und Karten ausgebreitet auf einer Tischtennisplatte.
Die hatte Herr Wienekamp vor kurzem aufgestellt, um daran mit seinem Sohnemann den einen oder anderen Sonntagnachmittag zu verbringen.
Taugt aber auch klasse als Ostfront.
Zurück zum Thema, ran an die Reparatur meiner lädierten Kinderseele: »Scheiß auf Talent, durchpausen ist ok! Durchpausen ist ok! Durchpausen ist ok! DURCHPAUSEN IST OK!«, rief ich meinem neunjährigen Ich zu, aber natürlich ohne Erfolg. Vorbei ist vorbei.
Es blieb die Gegenwart: Gestern abend schnappte ich mir ein paar alte Fix-und-Foxi-Hefte, holte Butterbrotpapier aus der Küche und pauste fleißig durch. FICK DICH, WIENEKAMP! Bis mir einfiel: Bei dem gibt’s ja nichts mehr zu ficken, der liegt schon lange in der Kiste. Wurde irgendwann von seiner Alten rausgeworfen und ausgesperrt - und kokelte dann von außen die Wohnungstür an, bis Polizei und Feuerwehr kamen. Wie gesagt, im Kaputtmachen war er Spitze, aber das hat ihm schließlich auch nichts geholfen. Er war dann halt weg, und zehn Jahre später lag er unter der Erde. Pech für ihn.
Zurück zum Butterbrotpapier: Das war früher besser - echt! Viel transparenter und nicht so milchig wie das, was man heutzutage im Supermarkt kriegt. Muß ich also künftig richtiges & teures Transparentpapier verwenden, wie ärgerlich!
Die Forschungsreise geht weiter - nächstes Mal! Mit Prinz Namor, Tuschefüllern und dem ersten GORGOL-Fanzine!
Deine Geschichten sind super. Den ganzen Seelenmüll, den das Heranwachsen in den Sechzigerjahren und Siebziegerjahren (und natürlich auch in den Achtzigerjahren…) so in mir hinterlassen hat, kann ich einfach weglachen, wenn ich Deine Storys lese.
Liebe Grüße
Martina